Um ausnahmsweise mal das Fazit vorweg zu nehmen: Dieses Buch ist ein Erlebnis. Ich habe die gekürzte Fassung bereits als Jugendliche gelesen und fand sie damals sehr beeindruckend, doch diese nun erstmals vollständige Fassung setzt die Messlatte noch einmal höher. Das Buch ist nicht nur beispielhaft, um den „Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Kleinen“ vor Augen zu führen, es gibt auch einen Eindruck davon, wie in unmittelbarer Nachkriegszeit mit dem Thema umgegangen wurde.
Unbedingte Leseempfehlung!

Achtung:
Folgende Besprechung enthält Aussagen, die auf die Handlung und den Ausgang des Buches hinweisen.
Ich spoiler sehr ungern, in diesem Fall lässt es sich zum Zweck einer eingehenden Besprechung allerdings nicht vermeiden.
Wer das Buch also noch lesen und NICHT wissen möchte, wie es endet, der liest bitte nicht weiter!
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Gern sagt man, jeder Einzelne könne durch sein Handeln etwas bewirken.
Ohne diese Vorstellung wäre das Leben doch recht trostlos, denn wer würde sich noch für eine Sache engagieren, wenn er davon ausgehen müsste, dass er nicht dazu beitragen kann, etwas zu verändern? Wir brauchen das Gefühl, etwas bewirken zu können und die Welt wenigstens im kleinen Rahmen mit zu gestalten. Und weil wir überzeugt sind, dass das Handeln jedes Einzelnen etwas bewirken kann, stellen wir uns gerne mit einer gewissen Arroganz hin und strafen jene, die nichts tun, die sich einfach in ihr Schicksal fügen, mit Überheblichkeit, manchmal sogar mit Verachtung.
„Warum habt ihr nichts getan?“, war eine beliebte Frage der Nachkriegsgeneration an Eltern und Großeltern. Noch heute zeigen viele Menschen nur Unverständnis dafür, dass sich die Mehrheit der Deutschen nicht gegen den Nationalsozialismus aufgelehnt hat; dass sie es einfach geschehen ließen.
Aber vielleicht gab es doch viele Menschen, die sich aufgelehnt haben, die gesagt haben „Ich nehme das so nicht hin!“. Im Kleinen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die keine solche Bekanntheit erlangten wie die Scholls oder von Stauffenberg. Deren Aktionen praktisch lautlos ins Leere liefen.

Hans Fallada hält in „Jeder stirbt für sich allein“ den Spiegel vor.
Das wirklich Schockierende daran: Die Geschichte basiert zu Teilen auf einer wahren Begebenheit.
Das Ehepaar Anna und Otto Quangel ist ein durchschnittliches deutsches Paar, die klassischen „kleinen Leute“ aus dem Arbeitermilieu. Am Tag der Kapitulation Frankreichs erhalten sie die Nachricht, dass ihr einziger Sohn im Kampf gefallen ist. Während das nationalsozialistisch gesinnte Deutschland feiert, bricht für die Quangels die Welt zusammen. Nach einem zornigen Ausbruch Annas reift in Otto der Entschluss: Er macht nicht mehr einfach wortlos mit, er lehnt sich auf, gegen diesen Führer, der Söhne in den Tod und Mütter in die Verzweiflung treibt!
Er entwickelt einen Plan. Postkarten will er schreiben, auf ihnen soll die Wahrheit stehen über diesen Führer und über sein Regime. Ablegen will er sie dann in gut besuchten Häusern, wo sie von anderen Menschen gefunden und gelesen werden. In Quangels Vorstellung werden die Karten nicht nur gelesen, sie werden weitergereicht, diskutiert, sie sollen das Denken der Menschen verändern.
Notgedrungen muss er Anna in seinen Plan einweihen und die will ihren Mann unterstützen. Die Quangels, die ohnehin ein sehr abgeschiedenes Leben ohne soziale Kontakte pflegen, schotten sich noch mehr ab und schaffen es, aus Arbeiterfront und Frauenschaft ausgeschlossen zu werden, ohne den Verdacht des Verrats auf sich zu ziehen. Sonntag für Sonntag schreibt Handwerker Quangel seine Karten, in anonymer Druckschrift, mühsam, langsam, eine, höchstens zwei schafft er pro Tag. Anna sitzt daneben, macht Handarbeiten, hilft Otto, die richtigen Worte zu finden. Montags ziehen sie los, suchen die richtigen Häuser – nicht zu nah, sie wollen ja nicht den Verdacht auf sich ziehen, aber auch nicht zu weit entfernt, schließlich muss Otto pünktlich zur Schicht in die Fabrik. Welch Ironie, dass ausgerechnet diese Sorgfalt auf ihre Spur führen soll.
Was die Quangels nicht einkalkulieren: Niemand will die Karten. Niemand will sie lesen, niemand will sie weitergeben; sie erzeugen bei denen, die sie finden, nur Angst. Fast alle werden sie bei der Gestapo abgegeben, wo Kommissar Escherisch langsam die Schlinge zuzieht …
Während die Quangels den sprichwörtlichen kleinen Mann versinnbildlichen, hat Fallada aber auch an alle weiteren Prototypen der Gesellschaft gedacht und sie in sein Buch integriert. Fast alle leben sie im selben Haus wie die Quangels.
Da sind die Persickes: die Söhne bei der SS, der Jüngste -Baldur- sogar auf einer nationalsozialistischen Eliteschule, der Vater schwerer Alkoholiker, allesamt treue Nationalsozialisten, die nicht davor zurückschrecken, zu ihren Gunsten andere in die Pfanne zu hauen.
Der alte Kammergerichtsrat Fromm, der zurückgezogen lebt, selbst den Persickes Respekt einflößt und der das Richtige tun will und im Rahmen seiner Möglichkeiten auch tut.
Emil Barkhausen, ein arbeitsscheuer, kleinkrimineller Hallodri aus dem Hinterhof, dessen unzählige Kinder vielleicht, vielleicht aber auch nicht von ihm sind und dessen Frau regelmäßig fremde Männer im ehelichen Bett beherbergt.
Die Jüdin Frau Rosenthal, deren Mann deportiert wurde und die in Angst und Panik lebt und der Willkür der Persickes ausgesetzt ist, bis die Tragödie ihren Lauf nimmt.
Oder auch Trudel Baumann, die Verlobte des gefallenen Ottochen Quangels, die zunächst mit dem Kommunismus sympathisiert, dann jedoch ein ruhiges, abgeschiedenes Leben vorzieht, nur um schließlich doch im Keller der Gestapo zu landen.
Viele Figuren, die oft unnahbar wirken und deren Charakterisierung wie angerissen scheint, doch genau dieses manchmal Unkonkrete macht ihre Authentizität aus.
Die Sprache es Romans ist einfach, prägnant, wirkt manchmal rau und derbe.
In knapp vier Wochen soll Hans Fallada die Geschichte rund um die Quangels wie im Rausch niedergeschrieben haben. Nicht nur im übertragenen Sinne „wie im Rausch“ – Fallada war schwer morphiumabhängig, alkohol-, nikotin-, kokain- und schlafmittelsüchtig.
Der Dichter und spätere Kulturminister der DDR, Johannes R. Becher, war an der Entstehung des Buches maßgeblich beteiligt. Becher war auch Präsident und Mitbegründer des Kulturbundes, in dessen Besitz sich zahlreiche Prozessakten von exekutierten Widerstandskämpfern befanden. Heinz Willmann, späteres Gründungsmitglied des Aufbau-Verlags und Generalsekretär des Kulturbundes, brachte Fallada die Prozessakten des Ehepaars Otto und Elise Hampel, welches Widerstand gegen das NS-Regime geübt hatte, indem es regimekritische Postkarten und Briefe verbreitet hatte.
Zunächst lehnte Fallada die literarische Verarbeitung ab: „Er selbst habe sich im großen Strom mittreiben lassen und wolle nicht besser erscheinen, als er gewesen war.“ [„Jeder stirbt für sich allein“, Aufbau Verlag, Berlin 2011, Nachwort S. 689, nach: Heinz Willmann: „Steine klopft man mit dem Kopf“, Berlin 1977, S. 294f.]
Doch schließlich gewann Falladas Interesse die Oberhand, er begründete das in einem Essay folgendermaßen:
„Diese beiden Eheleute […] zwei bedeutungslose Einzelwesen im Norden Berlins, […] nehmen eines Tages im Jahr 1940 den Kampf auf gegen die ungeheure Maschinerie des Nazistaates, und das Groteske geschieht: der Elefant fühlt sich von der Maus bedroht.“

©OTFW, Berlin / WikiCommons, GNU-Lizenz für freie Dokumentation
Die nun im Aufbau Verlag erschienene Ausgabe basiert auf dem Typoskript der Erstausgabe und zeigt den Roman erstmals in ungekürzter Originalfassung.
Die zuvor veröffentlichten Fassungen basierten auf der von Paul Wiegler lektorierten Fassung, die zahlreiche Streichungen enthielt. So fehlte bisher u.a. das 17. Kapitel und zahlreiche Stellen des Textes waren aus politischen und ideologischen Gründen gestrichen worden.
Diese Ausgabe enthält im Umschlag einen Stadtplan, was besonders für die, die Berlin nicht so gut kennen, sehr hilfreich sein kann, den Überblick über die Örtlichkeiten zu wahren.
Dazu kommt ein Anhang mit Glossar, biographischen Daten Falladas, Bildern und Nachwort.
Insbesondere die Bilder der Hampels und die Kopien aus deren Akten lassen die Geschichte noch lebendiger wirken, machen es noch unmöglicher, das Buch als „nur eine Geschichte“ abzutun.
Die Quangels/ Hampels haben anscheinend wie Don Quijote gegen die Windmühlen gekämpft und verloren. Doch heute, fast 70 Jahre später, erinnert man sich an sie; nicht nur in Berlin, sondern dank der Neuauflage des Aufbau Verlags und zahlreicher Übersetzungen sogar weltweit – die Hampels haben es geschafft, dank Hans Fallada zum Bestseller zu werden. Sie sind zu einem Inbegriff von Zivilcourage geworden und ihr Beispiel zeigt uns, dass wir sehr vorsichtig mit dem Vorwurf der Kollektivschuld umgehen sollten.
Titel: Jeder stirbt für sich allein
Autor: Hans Fallada
Gebundene Ausgabe: 704 Seiten
Verlag: Aufbau Verlag; Auflage: 8 (28. Februar 2011)
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3351033491