Provokation war der wichtigste Bestandteil meiner Kunst. Ich setzte sie strategisch ein, um eine Reaktion beim Publikum zu erzielen, und ich war damit weit gekommen. Doch in diesem Augenblick fühlte ich mich befangen. Ich ahnte, dass ich genau dadurch etwas von dem verloren hatte, was ich mit meiner Kunst einmal auszudrücken versucht hatte: Gefühle. Gefühle, die sich sonst nicht beschreiben ließen, die sich den Möglichkeiten meiner Sprache entzogen.
Lioba ist 42 Jahre alt, Künstlerin und hat, seit sie denken kann, ein schwieriges, sehr distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter.
Umso überraschter ist sie, als ihre Mutter zur Ausstellungseröffnung der Tochter extra nach Berlin anreist.
Konfrontiert mit den ausgestellten „Kuschelmuschis“ und „Fellfotzen“ und den Ansichten ihrer Tochter zum Thema weibliche Sexualität, verlässt die spröde Mutter die Ausstellung schnell wieder, erleidet jedoch in der Bahn einen Schlaganfall.
Meine Mutter war kein körperlicher Mensch. Zärtlichkeiten hatte sie stets sparsam verteilt.
Nun ist Lioba als einzige Verwandte in der Verantwortung, sie muss sich um die Mutter kümmern, muss deren Angelegenheiten regeln.
Trotz aller Aufgewühltheit, trotz aller innerer Zerrissenheit war dies ein Moment, in dem ich die Ironie verspürte, dass ich all die Jahre meines bisherigen Lebens darum gekämpft hatte, mich als eigenständiges Wesen zu definieren. Ausgerechnet während meine Mutter im Krankenhaus lag und ich ihrem Einfluss gänzlich hätte entzogen sein müssen, war ich ihr unmittelbar ausgeliefert.
Dabei ist Liobas Leben gerade kompliziert genug, denn seit Kurzem weiß sie, dass sie ein Kind erwartet. Ungeplant, ungewollt, unehelich, so wie sie selbst einst in die Welt kam.
Sie reist in ihre alte Heimat Köln, in die Wohnung ihrer Mutter. Diese Reise und die Krankheit der Mutter öffnen jedoch eine Tür in die Vergangenheit, durch die Lioba erst unfreiwillig und gequält, dann jedoch wie von einem Sog angezogen schreitet. Sie lernt die Mutter von einer vollkommen neuen Seite kennen, erfährt über die Familie, was ihr bisher vorenthalten wurde und muss ihre Sicht der Dinge so manches Mal überdenken.
Indem ich mich erinnerte, diesmal ganz neu und anders, spürte ich, wie ich meiner Mutter ihre Vergangenheit zurückgab und dadurch auch eine Zukunft für sie und mich schuf.
Die Entwicklung, die die Protagonistin im Laufe des Buches erfährt, lässt auch den Leser nicht unberührt.
Mila Lippke verfügt über ein selten-wunderbares Sprachgefühl und die Fähigkeit, den Leser während der Geschichte mit Worten wie in einen Mantel einzuhüllen. Während Lioba dem Familiengeheimnis näher kommt, das in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreicht, wärmen wir uns in diesen Worten und den wunderschönen Formulierungen, fühlen uns geborgen und sind doch selbst mittendrin in der Erzählung. Ich wünschte, ich könnte so manchen Satz einfach aus dem Buch herausreißen und in meinem Herzen einschließen, damit er immer bei mir ist.
Schon lange habe ich kein solch vereinnahmendes Buch mehr gelesen, das mich so sehr berührt hat, ohne mich zu erschüttern oder aufzuschrecken; das so eine Tiefe hat, mich aber mit Leichtigkeit bei der Hand nimmt und mitzieht. Es ist ein leises Buch und hinterlässt doch eine laute Erinnerung.
Mir selbst fehlen leider die Worte, um auch nur annähernd zu beschreiben, welche Wirkung das Buch auf mich hatte und mit Beruhigung sehe ich, dass es anderen auch so geht.
Durch die Rezension von Dorota bin ich überhaupt erst auf das Buch aufmerksam geworden und wollte es unbedingt sofort lesen.An dieser Stelle einen herzlichen Dank dafür, denn ich weiß nicht, ob ich in der Buchhandlung „einfach so“ über den Roman gestolpert wäre und ob mich Cover und Klappentext hätten überzeugen können, es zu kaufen.
Bei Ada Mitsou kann man ein sehr schönes Interview mit der Autorin lesen und sie selbst bloggt gemeinsam mit drei Kolleginnen auch ab und an über sich und ihre Arbeit.
Ein wunderbares Buch, glatte fünf Sterne.
Autorin: Mila Lippke
Titel: Morgen bist du noch da
Taschenbuch: 352 Seiten
Verlag: Ullstein Taschenbuch
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3548283494