Archiv für den Monat Februar 2012

Mila Lippke / Morgen bist du noch da

Provokation war der wichtigste Bestandteil meiner Kunst. Ich setzte sie strategisch ein, um eine Reaktion beim Publikum zu erzielen, und ich war damit weit gekommen. Doch in diesem Augenblick fühlte ich mich befangen. Ich ahnte, dass ich genau dadurch etwas von dem verloren hatte, was ich mit meiner Kunst einmal auszudrücken versucht hatte: Gefühle. Gefühle, die sich sonst nicht beschreiben ließen, die sich den Möglichkeiten meiner Sprache entzogen.

Mila Lippke: Morgen bist du noch da ©Ullstein VerlagLioba ist 42 Jahre alt, Künstlerin und hat, seit sie denken kann, ein schwieriges, sehr distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter.
Umso überraschter ist sie, als ihre Mutter zur Ausstellungseröffnung der Tochter extra nach Berlin anreist.
Konfrontiert mit den ausgestellten „Kuschelmuschis“ und „Fellfotzen“ und den Ansichten ihrer Tochter zum Thema weibliche Sexualität, verlässt die spröde Mutter die Ausstellung schnell wieder, erleidet jedoch in der Bahn einen Schlaganfall.

Meine Mutter war kein körperlicher Mensch. Zärtlichkeiten hatte sie stets sparsam verteilt.

Nun ist Lioba als einzige Verwandte in der Verantwortung, sie muss sich um die Mutter kümmern, muss deren Angelegenheiten regeln.

Trotz aller Aufgewühltheit, trotz aller innerer Zerrissenheit war dies ein Moment, in dem ich die Ironie verspürte, dass ich all die Jahre meines bisherigen Lebens darum gekämpft hatte, mich als eigenständiges Wesen zu definieren. Ausgerechnet während meine Mutter im Krankenhaus lag und ich ihrem Einfluss gänzlich hätte entzogen sein müssen, war ich ihr unmittelbar ausgeliefert.

Dabei ist Liobas Leben gerade kompliziert genug, denn seit Kurzem weiß sie, dass sie ein Kind erwartet. Ungeplant, ungewollt, unehelich, so wie sie selbst einst in die Welt kam.

Sie reist in ihre alte Heimat Köln, in die Wohnung ihrer Mutter. Diese Reise und die Krankheit der Mutter öffnen jedoch eine Tür in die Vergangenheit, durch die Lioba erst unfreiwillig und gequält, dann jedoch wie von einem Sog angezogen schreitet. Sie lernt die Mutter von einer vollkommen neuen Seite kennen, erfährt über die Familie, was ihr bisher vorenthalten wurde und muss ihre Sicht der Dinge so manches Mal überdenken.

Indem ich mich erinnerte, diesmal ganz neu und anders, spürte ich, wie ich meiner Mutter ihre Vergangenheit zurückgab und dadurch auch eine Zukunft für sie und mich schuf.

Die Entwicklung, die die Protagonistin im Laufe des Buches erfährt, lässt auch den Leser nicht unberührt.

Mila Lippke verfügt über ein selten-wunderbares Sprachgefühl und die Fähigkeit, den Leser während der Geschichte mit Worten wie in einen Mantel einzuhüllen. Während Lioba dem Familiengeheimnis näher kommt, das in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreicht, wärmen wir uns in diesen Worten und den wunderschönen Formulierungen, fühlen uns geborgen und sind doch selbst mittendrin in der Erzählung. Ich wünschte, ich könnte so manchen Satz einfach aus dem Buch herausreißen und in meinem Herzen einschließen, damit er immer bei mir ist.

Schon lange habe ich kein solch vereinnahmendes Buch mehr gelesen, das mich so sehr berührt hat, ohne mich zu erschüttern oder aufzuschrecken; das so eine Tiefe hat, mich aber mit Leichtigkeit bei der Hand nimmt und mitzieht. Es ist ein leises Buch und hinterlässt doch eine laute Erinnerung.

Mir selbst fehlen leider die Worte, um auch nur annähernd zu beschreiben, welche Wirkung das Buch auf mich hatte und mit Beruhigung sehe ich, dass es anderen auch so geht.
Durch die Rezension von Dorota bin ich überhaupt erst auf das Buch aufmerksam geworden und wollte es unbedingt sofort lesen.An dieser Stelle einen herzlichen Dank dafür, denn ich weiß nicht, ob ich in der Buchhandlung „einfach so“ über den Roman gestolpert wäre und ob mich Cover und Klappentext hätten überzeugen können, es zu kaufen.

Bei Ada Mitsou kann man ein sehr schönes Interview mit der Autorin lesen und sie selbst bloggt gemeinsam mit drei Kolleginnen auch ab und an über sich und ihre Arbeit.

Ein wunderbares Buch, glatte fünf Sterne.

Autorin: Mila Lippke
Titel: Morgen bist du noch da
Taschenbuch: 352 Seiten
Verlag: Ullstein Taschenbuch
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3548283494

[Gastrezension] Elisabeth Zöller / Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens

Elisabeth Zöller: Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens ©Fischer VerlageYvonne wollte gerne Bekanntschaft mit Anton machen und so hat sie sich nach meinem Beitrag zum 27. Januar, in dem Bücher zum Thema Nationalsozialismus ein Zuhause suchten, bei mir gemeldet. Anton ist inzwischen wohlbehalten bei ihr angekommen und hier folgt nun ihr Leseeindruck. Herzlichen Dank, liebe Yvonne!

***   ***   ***

Das Buch erzählt die Geschichte von Anton. Anton ist ein sehr liebenswerter Junge, der mir sofort ans Herz gewachsen ist.
Er ist unglaublich gut in Mathematik, aber leider hilft ihm das in der Zeit, in der er aufgewachsen ist nicht viel – es ist die Zeit des Nationalsozialismus.
Anton ist durch einen Unfall behindert. Er stottert, kann seinen rechten Arm nicht richtig bewegen und spricht von sich selbst in der dritten Person.
Trotz seiner Einschränkungen ist Anton ein sehr aufgewecktes Kind mit vielen Fragen und Gedanken.

Das Buch ist ein Jugendbuch und in einer sehr flüssigen Sprache geschrieben, sodass es sich gut lesen lässt.
Ich bin sofort in die Geschichte eingetaucht und habe im Kopf neben Anton auf dem Schulhof gestanden und die Gemeinheiten der anderen Kinder ertragen. Das fand ich auch eigentlich das Schlimmste. Sicherlich hat der mit einer normalen Allgemeinbildung versehene Mensch von heute eine Vorstellung davon, wie schlimm die im Dritten Reich verübten Gräueltaten waren. Aber so hautnah aus der Sicht eines Kindes zu lesen, wie sehr auch die ganz kleinen Kinder schon von der Ideologie geprägt waren und wie grausam sich erwachsene Menschen gegenüber Kindern verhalten haben, hat mich doch sehr mitgenommen.

Etwas schade fand ich, dass man so wenig darüber erfährt, wie die anderen Kinder der Familie damit umgegangen sind ,einen behinderten Bruder zu haben.
Ich denke mal, dass auch sie wahrscheinlich deswegen Anfeindungen  ausgesetzt waren.
Darüber hätte ich, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Antons Schwester Marie noch lebt und direkt hätte erzählen können, doch gerne mehr erfahren.

Beim Lesen dieses Buches macht man sich deutlich, dass es niemals wieder so weit kommen darf und wir alle dafür einstehen müssen.
Sehr berührt hat mich folgender Dialog von Seite 27:

Marie seufzt. Kleine Brüder konnten einem fast die Seele aus dem Leib fragen. Und Anton erst recht.
Da erklärte Mama: „Wer fragt, lebt.“
„Und wenn er mal nicht mehr fragt?“, fragte Marie.
„Dann ist er tot“, sagte Mama.
Nach einer Weile sagte Anton: „Jetzt weiß Anton, warum Gott nicht alle Fragen beantwortet.“
„Und warum?“, fragten Marie und Mama.
„Weil er will, dass die Menschen leben.“

Mein Fazit: Lesenswert! Aufrüttelnd!

Autorin: Elisabeth Zöller
Titel: Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens
Taschenbuch: 223 Seiten
Verlag: Fischer
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3596805167

Laurie Notaro / Spooky little girl

Lucy hat mehr als nur eine Pechsträhne: Aus dem Traumurlaub wird ein Horrortrip, nach ihrer Rückkehr muss sie feststellen, dass ihr Verlobter sie kommentarlos vor die Tür gesetzt hat und dann wird sie auch noch gefeuert. Man sollte meinen, das würde ausreichen, doch nein, falsch gedacht, denn zur Krönung dieser Pechsträhne gerät Lucy auch noch unter einen Bus. Und selbst im Jenseits hat die arme Lucy nicht ihre Ruhe, denn ihr wird der Zugang zum „Großen Land“ verweigert. Offenbar hat Lucy im Leben einiges vermasselt und muss nun zum Ausgleich eine Mission bewältigen, die es in sich hat …

Buchtitel und Cover verleiten dazu, dieses Buch als simple „ChickLit“ abzustempeln. Wie schön, dass das Buch selbst dann doch einiges mehr zu bieten hat und ich mich überzeugen ließ, dass es mir gefallen könnte 😉
Irgendwie ist diese Storyline „Mädchen stirbt und muss noch ein wenig rumspuken, eh sie im Jenseits das Paradies findet“ ziemlich ausgelutscht und zuerst dachte ich, es sei nur ein müder Abklatsch von Adena Halperns „Die 10 besten Tage meines Lebens“, doch Laurie Notaros Buch bietet mehr als das und abgesehen von der „Mädchen stirbt und kommt ins Jenseits“-Thematik gibt es nur wenige Gemeinsamkeiten zwischen den Büchern.

Es geht um eine junge Frau, der, um es mal deutlich zu sagen, das Leben so richtig in die Fresse gehauen hat.
Ihr Leben gerät ohne ihr Zutun aus den Fugen und sie dabei sprichwörtlich unter die Räder.
Im Jenseits muss sie nun lernen, die Gegebenheiten, sprich: ihren Tod, zu akzeptieren und ihre Mission wird zu einer Reise der Selbsterkenntnis. Lucy muss erkennen, welche Spuren sie im Leben und bei den Menschen hinterlassen hat und zu Beginn scheinen das nicht sonderlich viele zu sein, denn abgesehen von ihrer Schwester, ihrem Neffen und ihrer Hündin Tulip scheint niemand Lucy zu vermissen. Doch wie auch zu Lucys Lebzeiten, sind auch im Tod die Dinge manchmal nicht so, wie sie scheinen.

Die Geschichte wird auf unterhaltsame, aber niemals platte Art und Weise geschildert, manchmal muss man lachen, manchmal wird man nachdenklich, und, so viel darf man wohl verraten, das Ende lässt einen doch relativ beruhigt und fast schon mit Lucys Schicksal versöhnt zurück.

Spoiler (zum lesen bitte die untenstehende weiße Fläche markieren):
Was mich ganz besonders berührte, war das Nachwort, in dem die Autorin von der echten „Lucy“ schreibt, einer jungen Frau, die nach einer sagenhaften Pechsträhne auf einmal spurlos verschwindet und deren Freunde erst nach langer Zeit von ihrem Ableben erfahren. Unter diesem Aspekt bekommt die Geschichte dann noch eine Extraportion Tiefgang.

Kritikpunkte:
Ab der Mitte des Buches wird die Handlung sehr gerafft, sodass sich ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass die Autorin eine feste Seitenzahl einzuhalten hatte, in die sie ihre Geschichte „quetschen“ musste. Vieles, was gerne ausführlicher hätte geschildert werden können, wird nur noch „mal eben schnell“ erwähnt und es gab doch manche Schlüsselszene, auf die ich mich das ganze Buch hindurch gefreut hatte und die durch diese Straffung sehr an Effekt verloren hat.

Der erste Satz:

Bereits als das Taxi am Straßenrand anhielt, wusste Lucy Fisher, dass sie etwas Außergewöhnliches sah.

Fazit:
Sicher ist „Spooky little girl“ nicht das anspruchsvollste aller Bücher, aber es bietet doch weit mehr als man auf den ersten Blick meinen könnte und manch kritischen Blick auf die Menschen und das Leben. Mich hat es einige Stunden sehr gut unterhalten und dafür gebe ich ihm verdiente vier Sterne.

Autorin: Laurie Notaro
Titel: Spooky little girl. Ein Geist zum Verlieben.
Originaltitel: Spooky Little Girl
Broschiert: 352 Seiten
Verlag: Blanvalet Verlag
gelesen auf: Deutsch
ISBN-13: 978-3764503857

S. J. Watson / Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Unser Leben besteht aus Erinnerungen – doch was sind wir, nimmt man sie uns? Sind wir noch wir selbst, wenn wir uns an nichts erinnern?

Christine erlebt genau das. Jeden Morgen wacht sie auf, in einem Zimmer, das ihr fremd ist, neben einem Mann, an den sie sich nicht erinnern kann, zwanzig Jahre älter, als sie zu sein glaubte. Jeden Tag versucht sie, sich an ihr Leben zu erinnern und jede Nacht werden die Erinnerungen aufs Neue aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Christine leidet an einer seltenen Form der Amnesie, die Ärzte sind ratlos. Bis ein junger ambitionierter Arzt einen Weg findet, zu Christine und ihren verdrängten Erinnerungen durchzudringen. Doch die ersehnte Wahrheit, wie es zu ihrer Amnesie kommen konnte, birgt manches unangenehme Geheimnis …

Es war das Cover, das mich magisch anzog. Ich kann wohl froh sein, dass es in dieser Form im Laden lag und nicht in der inzwischen verbreiteteren Variante, denn das blaue Cover hätte mich das Buch wohl nicht einmal in die Hand nehmen lassen. Der Klappentext klang viel versprechend und auch der Beginn des Buches konnte mich fesseln. Was Christine erlebt, ihre Verwirrtheit, ihre verzweifelten Versuche, sich zu erinnern, dringen durch die Wahl des Präsens und die Ich-Form gut zum Leser durch, man ist quasi direkt dabei, begleitet Christine durch den Tag. Die Erinnerungen selbst werden in der Vergangenheitsform geschildert, was natürlich nur logisch ist – doch leider liegt auch genau darin die Schwäche des Buches. Der mittlere Teil besteht praktisch nur aus diesen Rückblicken und zieht sich stellenweise wie zäher Kaugummi.  Meiner Meinung nach hätte hier gut gestrafft werden können, es kommen einfach viel zu viele Wiederholungen auf, die zwar Christines Lage gut verdeutlichen, den Lesefluss und v.a. die Spannung aber extrem ausbremsen. Ich hatte zwischendurch kaum noch Lust, weiter zu lesen, doch zum Glück habe ich es getan, denn zum Ende steigert sich wieder das Tempo, wird die Erzählung wieder packend und das Buch wartet mit einer fulminanten Überraschung auf.

Der erste Satz:

Das Schlafzimmer ist seltsam.

Die Grundidee des Buches ist toll, die Erzählart weist jedoch Schwächen auf, die das Ende zum Glück einigermaßen ausgleichen kann. Nichtsdestotrotz reicht es so nur für drei Sterne.

Autor: S.J Watson
Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
Originaltitel: Before I go to Sleep
Broschiert: 464 Seiten
Verlag: Scherz
gelesen auf: Deutsch
ISBN-13: 978-3651000087

Das etwas andere Notizbuch

Wie einige andere von euch sicher auch, habe auch ich kürzlich eine eMail von Rochefortbooks bekommen und wenn ich sonst auch jedwede Werbung ablehne, diese Idee finde ich so großartig, dass sie mir einen Beitrag wert ist!

Wer ist Rochefortbooks?
Rochefortbooks ist sozusagen die Erweiterung des Antiquariats Rochefort. Dahinter stecken der Dipl.-Archivar Daniel Glage und Tanja Hoffmann, die sich hauptsächlich ums Marketing kümmert.

Was macht Rochefortbooks?
Nachdem jahrelang tausende alter Bücher durch die Hände der Antiquare gewandert waren, von denen oft nur noch der Einband erhalten war, kamen sie auf die Idee, diesem Einband zu einem zweiten Leben zu verhelfen. Die Einbände wurden mit Papier gefüllt – und schon war die Idee zu einem außergewöhnlichen Notizbuch geboren.

Im noch recht jungen Blog http://rochefortbooksblog.wordpress.com/ kann man ein wenig  am Entstehungsprozess Anteil haben und meiner Meinung nach wird dort auch sehr deutlich, dass da Menschen mit Herzblut bei der Sache sind.

Bei Aufräumarbeiten in diversen Bibliotheken und Archiven sind mir leider auch schon zu oft Bücher begegnet, von deren Inhalt nichts mehr zu retten war, Schimmel und Säurebruch hatten ihr Werk getan, aber der Einband war noch recht intakt. Leider half das auch nichts, die Bücher mussten isoliert und anschließend entsorgt werden. Dass die Einbände auf diese Weise weiterverwendet werden, finde ich klasse.

Ins Regal gestellt, fällt das Notizbuch unter den anderen Klassikern nicht wirklich auf – so etwas hätte ich dringend als Teenie gebraucht, dann hätte ich mir die Tagebuchversteckerei sparen können ;-).
Dass ich nun ein Notizbuch in einem Goethe-Einband erhalten habe,betrachte ich als Glücksfall, denn ich liebe Goethe und „jage“ schon seit längerem (leider mäßig erfolgreich) alte Ausgaben seiner Bücher. Auf jeden Fall weiß ich schon, was diverse Freunde in diesem Jahr zum Geburtstag bekommen werden und ich hoffe, dass noch viele andere Literaturfans sich für diese tolle Idee begeistern können und Rochefortbooks uns noch lange erhalten bleibt. Und vielleicht findet sich ja noch der eine oder andere Antiquar, der an einer Kooperation interessiert ist.