Archiv für den Monat März 2012

Eric W. Steinhauer / Vampyrologie für Bibliothekare. Eine kulturwissenschaftliche Lektüre des Vampirs.

Es ist ja unter fleißigen Bloglesern kein Geheimnis, dass ich nicht unbedingt zu den größten Vampirfans gehöre. Geht mir weg mit Twilight und diesem ganzen Mist! Ich hab mich ja auch das eine oder andere Mal schon auf Twitter dazu geäußert:

In Tarantino-Manier wie bei Anonymus oder klassisch wie bei Stoker find ich sie ganz ok und ja, als Teenie hab ich auch mal die Vampirheftchen von Cora gelesen (und weiß seit dieser Woche nun auch, dass die wohl sehr angesagte Vampirserie „Vampire Diaries“ darauf beruht), ich fand den kleinen Vampir ganz toll (oder, um mal ganz ehrlich zu bleiben, v.a. seinen Cousin Lumpi in der Fernsehserie) und als Kind hatte es mir der bissige Benjamin mit der Vorliebe für Himbeereis angetan, das wars dann aber auch. Dachte ich.

Eric W. Steinhauer ist nicht nur der Mann, der mir das Urheberrecht nahe gebracht hat, sondern er ist auch derjenige, der die „Halloween Lecture“ am Institut für Bibliothekswissenschaft in Berlin hält. Als Folge der Lecture von 2010 entstand dieses Büchlein, das dank Tobias Wimbauer nun auch alle die an der wissenschaftlichen Vampirgeschichtsaufarbeitung teilhaben lässt, die zur Live-Performance  nicht erscheinen konnten. Und ich muss zugeben, es hat mich mit dem Thema Vampir ein wenig versöhnt.

Den Vampir als ein bibliothekarisches Phänomen zu beschreiben und zu verstehen, ist das Ziel dieser kleinen Abhandlung.

Steinhauer: Vampyrologie ©Eisenhut Verlag

Der Autor und sein Werk

Steinhauer nimmt uns mit auf eine Reise durch Literatur-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte auf den Spuren der Vampire, klärt eingängig die Begrifflichkeiten (jetzt kenne ich endlich den Unterschied zwischen „Vampyr“ und „Vampir“ – die Feinheiten der deutschen Sprache können solch ein Genuss sein!) und zieht den roten Faden vom Volksglauben (samt Zeugenberichten) über die literarische Verbreitung, sei es als Roman oder als wissenschaftliche Abhandlung, bis hin zum Überleben des „Nachzehrers“ in Büchern und Bibliotheken, ohne die -und das belegt der Autor mit Nachdruck- die heutige mediale Verbreitung undenkbar wäre.
Dabei wandelt Steinhauer stetig auf dem Grat zwischen Wissenschaftlichkeit und Unterhaltung, und so hat man nach Lektüre des knapp hundertseitigen Büchleins nicht nur etwas über den Vampir und dessen mannigfaltige Geschichte gelernt, sondern ist dabei auch noch durch allerlei Anmerkungen, vor allem in Form von Fußnoten, aber auch mittels Illustrationen bestens unterhalten worden.
Absolute Leseempfehlung!

In unseren Bibliotheken sind wir also von Toten oder besser von UNtoten nur so umgeben. Sobald wir ein Buch aufschlagen, suchen sie uns heim. Und wenn wir dies nicht gut dosieren, verlieren wir unsere eigenen Gedanken. Am Ende können wir gar nicht mehr unterscheiden, was von uns und was von den Büchern ist.
Abgestandene Ideen und längst überwunden geglaubte Vorstellungen können so wie modrige Vampire den Grüften der Magazine entsteigen und durch die Vitalität der Leser zu neuem Leben erwachen.

Abschließend möchte ich hier gerne noch auf Petras Blog und ihr Interview mit dem Autor verweisen.

Übrigens ist im Rahmen der Halloween Lecture 2011 ein weiteres Büchlein im Eisenhut-Verlag erschienen, in dem sich Eric W. Steinhauer diesmal mit der sagenumwobenen „Bibliotheksmumie“ befasst.

Titel: Vampyrologie für Bibliothekare. Eine kulturwissenschaftliche Lektüre des Vampirs.
Autor: Eric W. Steinhauer
Broschiert: 104 Seiten
Verlag: Eisenhut Verlag
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3942090063

[Gastrezension] Paul Auster / Unsichtbar

Amy liest gern und viel und schreibt wunderschöne Rezensionen, bislang jedoch nur für ihre Freunde. Ich freue mich sehr, dass sie sich nun entschlossen hat, in Zukunft gelegentlich die eine oder andere Gastrezension für diesen Blog zu verfassen :).

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Paul Auster: Unsichtbar ©Rowohlt VerlagIch habe zwei Lieblings-Schriftsteller: Der eine ist Paul Auster, der andere Stewart o’Nan. Stil und Sprache sind bei beiden von absoluter Perfektion, dennoch könnte ihre Intention unterschiedlicher nicht sein. Stewart o’Nan liebt die Menschen und sucht nach dem Guten selbst in der blassesten, unbedeutendsten Seele; Paul Auster blickt mit Kühle und Faszination in die Abgründe derselben. In die Abgründe von jedem von uns. Er seziert Leben wie der Pathologe Leichen.
Seine Spezialität ist das Buch im Buch. Die Geschichten seiner Protagonisten sind stets auf geheimnisvolle Weise miteinander verwoben – und als Leser bleibt man manchmal verstört, manchmal empört, manchmal seltsam beschmutzt zurück. Als würde er auch uns anklagen, uns zwingen, einen Blick in unseren eigenen Abgrund zu wagen – und zu erschauern. Er lässt uns zweifeln, ob das Gute wirklich existiert.

„Unsichtbar“ handelt von der Bosheit des Menschen, von Berechnung und Kalkül, vor allem aber von Rache.
Ein idealistischer Student trifft Ende der 1960er in den USA  auf seinen vermeintlichen Gönner und verfällt  in dessen Abwesenheit für kurze Zeit seiner Gefährtin. Vermutlich gibt diese kurze und leidenschaftliche Affäre den Startschuss für einen Strudel von Gewalt und Begierde und Besessenheit. Vermutlich.
„Unsichtbar“ trieft vor Sex, vor ungehemmter Lust, vor verbotener Lust.
Paul Auster serviert sie uns in nicht unappetitlicher Weise, trotzdem lässt uns der Eindruck nicht los, dass sie zu einer großen Portion Anteil hat an der sich langsam entwickelnden Schlechtigkeit des jungen Mannes.
Binnen kürzester Zeit sind anfangs völlig Unbeteiligte in einem Netz aus Unglück und Verzweiflung gefangen – und, wie immer bei Paul Auster, stellt man sich die Frage: Womit fing es an, wer hat Schuld? Niemand – oder doch alle, jeder auf seine eigene Weise?

Paul Auster fordert mich intellektuell, keine Frage. Nicht EIN Wort, nicht EIN Satz steht ohne Grund geschrieben, jede einzelne Aussage, der Wechsel von Ich-Erzählung zum Roman aus der Sicht einer zweiten oder dritten Person ist bedeutsam und zwingt dem Leser eine aufmerksame, angespannte Lektüre auf.
Paul Auster bereichert mich nicht, niemals. Er fördert weder das Beste aus mir selbst zutage, noch lehrt er den Glauben an das Gute in der Welt, im Gegenteil: Er erinnert schonungslos, fast unbarmherzig an die eigene Unvollkommenheit, die eigene Schwäche, Bosheit, Ich-Sucht.
Auch dahinter steht Absicht.
Paul Auster möchte nicht moralisieren im Sinne von: Tut Gutes, euphorisiert Euch an guten Werken, dann wirst Du, dann bist Du gut.
Paul Auster möchte versöhnen, den Leser versöhnen, MICH versöhnen mit der Schwäche meines Gegenübers, mit der Schwäche aller Menschen auf der Welt.
Versöhnung mit Deiner und meiner Schwäche wiederum entlastet von allzu hochfahrenden Ansprüchen an die Welt im Allgemeinen und mich selbst im Speziellen.
Jedes Mal nach Beendigung (s)eines Romans fällt es mir leichter, zu vergeben: Den von Lust und Gier und Hass und Schmerz Getriebenen überall um mich herum – und vor allem mir selbst.

Autor: Paul Auter
Titel: Unsichtbar
Originaltitel: Invisible
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Verlag: Rowohlt
gelesen auf: Deutsch
ISBN-10: 3498000810

[Gastrezension] Edgar Hilsenrath/ Der Nazi und der Friseur

Nach meinem Beitrag zum 27. Januar meldete sich der von mir sehr geschätzte Flattersatz bei mir und bekundete Interesse an Edgar Hilsenraths Buch „Der Nazi und der Friseur“.
Ich freue mich sehr, euch nun seine Rezension der Extraklasse präsentieren zu dürfen. Und dir, lieber Flattersatz, recht herzlichen Dank!

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Es ist schon eine provozierende Konstellation, die der Autor für seinen Roman gewählt hat. „Der Nazi & der Friseur“: ein makabres Rollenspiel, in dem der Max Schulz die Hauptrolle innehat. Aber der Reihe nach…

Im Mai 1907 wurden in einem kleinen schlesischen Städtchen, Wieshalle, zwei Jungen geboren, praktisch gleichzeitig: der Max Schulz und der Itzig Finkelstein. Noch spielt es zwar nicht die große Rolle (das sollte sich später dann ändern), aber so wie der kleine Itzig Finkelstein ein Jude war mit frommen jüdischen Eltern war der ebenso kleine Max Schulz arisch bis ins x-te Glied, wie man es später nannte. Und auch ansonsten unterschieden sich die beiden Knaben… der Itzig war blond und groß mit blauen Augen, seine Eltern sittsam und fromm. Der Vater führte einen gutgehenden Frisiersalon mit guter Kundschaft und verdiente damit sein Geld. Der kleine Max hingegen – sehen wir es so, wie es ist: sah aus, wie später die Hetzkarikaturen des „Stürmers“: Hakennase, wulstige Lippen und dunkle Behaarung, von den Froschaugen ganz zu schweigen. Seine Mutter, die Minna Schulz, war dick und stand auf dünnen Beinen. Oft lag sie auch und verdiente sich ein Zubrot mit den Herrenbesuchen, die sie empfing. So nimmt es nicht wunder, daß nicht weniger als fünf Herren infrage kämen, leibliche Erzeuger des kleinen Max zu sein.

Aufgewachsen ist Max Schulz aber bei einem anderen Mann, dem Friseur Slavitzki, dem ein so großes .. ähämmm.. nachgesagt wurde, daß man vermutete, er würde es mit einem Gummiband an seinem Bein festbinden, damit es nicht so schlackerte. Diese Tatsache ist nicht ganz unwichtig, da der Dachschaden, den man bei Max vermutete, der mütterlichen Ansicht nach davon herrührt, das der Slavitzki dem Kleinen mit seinem Ding bis ins Hirn gestoßen habe… und dann die Prügel, die gab es außerdem.. mit den Stöcken, einen für die Mutter, einen für den Stiefsohn….

Und trotz all dieser Unterschiede und der natürlichen Konkurrenz zwischen dem aus polnischen Wurzeln stammenden Friseur Slavitzki und dem Juden Finkelstein, die sich gegenseitig durchs Fenster beobachten konnten, freundeten sich der Max und der Itzig an… und Max lernte die jüdischen Gebete, die im Haus Finkelstein gesprochen wurden, er ging mit in die Synagoge und lernte die Vorschriften, die der Jude zu befolgen hatte. Sie spielten zusammen, gingen zusammen in die Schule und irgendwann begann der Max eine Ausbildung als Friseur – im Salon „Der Herr von Welt“ des Juden Finkelstein…

Unterschiedlicher hätten die Lebensumstände der beiden Jungens kaum seien können und doch… Hilsenrath läßt da gar keine Illusion aufkommen, sie sind völlig irrelevant. Auch wenn er es nicht weiß, Itzig ist qua Geburt Verlierer und mag er noch so blaue Augen haben und blondes Haar und ebenso ist Max qua Geburt auf der Gewinnerseite, trotz seiner Stürmerjudenaussehens. Weil nämlich eines Tages so etwas wie eine Erscheinung kommt nach Wieshalle, auf den Ölberg, einer wie ein Messias, der den Geknechteten und Entrechteten, die ihm andächtig zuhören, Erlösung verspricht, einen Stock verspricht, mit dem sie zurückschlagen können auf die, die sie beherrschen und unterdrücken.

Und der Führer sprach: „…. Wahrlich ich sage euch: In der Hand des wahren Meisters wird der Stock zum Schwert, auf daß die Hand herrsche bis in alles Ewigkeit. Amen. …“ Und ich sagte zu mir: Max Schulz. Höchste Zeit, daß du selber den Stock in die Hand nimmst, den gelben und den schwarzen.

Es ist keine Rede, die Hitler dort auf dem Ölberg hält, es ist eine Predigt, Hitler ist der Messias der Erniedrigten Deutschlands, er ist der Mensch mit der Vision, dem Heilsversprechen, dem die schreiende, tobende, weinende Masse zujubelt, Hitler ist der Erlöser. [1]

Max bekommt seinen Stock, seinen Prügel, einen Schiessprügel nämlich. Im Gegensatz zu seinem Vater, der nur bei der SA landen kann, tritt Max der SS bei. Als Totenkopfmann fährt er dann im Krieg mit Sonderkommandos durch Polen und andere Länder, um Juden zu liquidieren, hier ein paar, dort ein paar. Wenn die Gegend gesäubert ist, zieht das Kommando weiter. Wegen Herzproblemen wird Max Schulz, der MaSSenmörder dann in ein Vernichtungslager geschickt. Zum Vernichten. Wieviele werden es gewesen sein? Wer weiß das schon, so um die 10.000 sagt der Max Schulz irgendwann am Ende des Romans, einfach, um eine Zahl zu nennen. Und er war gut beim Morden, der Massenmörder und Oberscharführer Schulz. Er musste gut sein, weil er doch aussah wie ein Jude auszusehen hat (dem „Stürmer“ sei dank), sogar ein bischen besser musste er sein als die anderen.. dabei war es ja nicht so, daß er die Juden hasste oder irgendetwas gegen sie hatte. Auch und erst recht nicht gegen die Finkelsteins, die er in Laubwalde auch erschießen musste. Er hatte nur endlich den ersehnten Stock in seiner Hand und die Erlaubnis, den Befehl, zuzuschlagen… die empfangenen Schläge, die Vergewaltigungen, den Dreck, die Entrechtung zurückzuzahlen demjenigen, der ihm benannt worden ist von seinem Erlöser.

Es war hektisch, als die Russen immer näher kamen, der Geschützdonner schon zu hören war. Noch schnell das Lager von Überlebenden befreien und dann im LKW nach Deutschland fliehen, durch den Wald. Doch im Wald, da sind die Partisanen.. piff-paff.. alles tot mit halben Hirnschalen nur noch. Alle? Nein, zwei hingen mit bloßen Arsch über der Reling zum Scheissen: Max Schulz und Hans Müller, der Lagerkommandant. Ihre Hirnschalen blieben heile, auch der Schwanz blieb dran und die Uniform drumherum, um den Körper, den frierenden in der eisigen polnischen Kälte im Wald. Das einzige, was man retten konnte, war eine Schachtel mit Gold. Zähnen. Das Startkapital für ein neues Leben, sozusagen. Max Schulz (wo Müller ist, wissen wir nicht) irrt mit einem Sack auf den Rücken durch den Wald und kommt irgendwann halb erfroren an eine Hütte, in der die Einsiedlerin Veronja haust.

Die alte, seltsame, verhuzelte Veronja sieht einen Gott in ihrer Tür stehen. Einen abgehalfterten Gott auf der Flucht, einen Gott ohne Macht, einen ohnmächtigen Gott, einen Ex-Gott, sozusagen. Und was macht man mit einem Ex-Gott, der ein dunkler Gott war, ein tötender? Man fickt ihn! Max Schulz ist von Veronja abhängig, er kann sie nicht töten, ohne selbst verloren zu sein. Und Veronja… sie gibt ihm Drogen, Kräutersude und sie reitet ihn, ein ums andere mal, bis ihn sein Herz fast im Stich läßt, sie prügelt ihn mit ihrer Peitsche und päppelt ihn dann wieder auf, um einen neuen Ausritt zu wagen… Welch eine Szene! Der SS-Mann auf der Flucht vor der alten, runzeligen, krummbeinigen und peitschenschwingenden Kräuterhexe, die ihm buchstäblich die Seele aus dem Leib schlägt und schläft…. Letztlich aber tötet Max die Hexe doch, in einem Akt von Notwehr und er zieht mit seinem Sack und den Goldzähnen weiter gen Deutschland… oder dem was übrig geblieben ist.

Kürzen wir die Geschichte etwas ab.. Es gelingt dem Max Schulz tatsächlich mit seinen Goldzähen im Gepäck nach einem längeren Zwischenstopp bei Witwe Holle in das zerstörte Berlin zu kommen. Dort entschließt er sich zu zweierlei: zum einen versilbert er die Goldzähne (bis auf drei, die er als Andenken behält) und bekommt so daß Startkapital, um als kleiner jüdischer Schwarzhändler Karriere zu machen. Jawohl, jüdisch, denn natürlich hat er Angst davor, entdeckt zu werden bei der Jagd auf die Nazis, die jetzt einsetzt und so entschließt er sich, aus dem Schein (meint: wie ein „Stürmer“-Jude auszusehen) Sein zu machen: Max Schulz erinnert sich seiner jüdisch geprägten Kindheit und mutiert zum Juden, nicht zu irgend einem, nein, Max Schulz, der Massenmörder wird zu Itzig Finkelstein. Ein alter Kamerad, ein Arzt, schneidet ihm das ab, was er zwischen den Beinen zuviel hat und ein anderer tätowiert ihm eine Lagernummer auf den Arm, die ihn als Insasse von Auschwitz kennzeichnet [2]. Wenn schon, denn schon…

Der kleine Schwarzhändler Itzig Finkelstein macht seine Geschäfte, auch lernt er Frauen kennen, bei denen er logiert. Ihnen gegenüber verteidigt er sein Judentum, er erklärt es, erläutert es, versucht zu überzeugen. So sehr er früher SS-Mann war, so überzeugend und überzeugt ist er jetzt als Jude. Nach einigen geschäftlichen Turbulenzen entschließt sich Itzig Finkelstein, mit einem Blockadebrecher aufzubrechen, ins Land seiner Väter zu fahren, 2000 Jahre Exil zu beenden: Palästina ruft, der Staat der Juden, der dort und nirgends anders gegründet werden soll.

Es ist eine wilde Überfahrt auf einem wilden Seelenverkäufer (der „Exitus“), aber sie kommen an, durchbrechen die britische Blockade. Und Itzig lebt sich ein in Palästina, er fängt wieder an, als Friseur zu arbeiten und unterhält die Kunden mit patriotisch-zionistischen Reden. So werden die örtlichen Untergrundkämpfer auf ihn aufmerksam und da er mit Waffen umgehen kann, wird er in die Gruppe aufgenommen… Später dann, nach Gründung des Staates, wird er Soldat, der heimliche Liebling aller Militärs, ist er es doch in einem der frühen Kriege, der als Speerspitze der Armee mit seinem Jeep den Suez-Kanal erreicht (eine Szene, die von Kishon sein könnte, der Sergeant Finkelstein, der in die falsche Richtung abbiegt und am Kanal landet…).

Auf diese Weise zeigt uns Hilsenrath die Beliebigkeit der Dinge. Ausgerechnet die Fähigkeiten, die er bei den Nazis gelernt hat, bringt er hier für den Judenstaat ein: schießen, Waffenkenntnisse, militärisches Gespür. Eine unendlich schmerzvoll zu lesende Szene ist die, wie er die Kinder auf dem Schiff Vitamine spritzt und zwar so gut, daß alle nachher Freunde sind von „Chawer Itzig“ (Kamerad Itzig). Aber gelernt ist schließlich gelernt, nur daß er in Laubwalde Phenol in den Spritzen hatte, mit denen er dort -zig kleine Engel machte…..

… und so lebt Max Schulz ein ganz normales jüdisches Leben. Er findet sogar eine Frau, so dick, nein, fetter noch als seine Mutter, seine Traumfrau also, eine stumm gewordene in den Lagern, eine, die noch immer vom Hungerengel verfolgt [3] wird. Den Frisiersalon seines Chefs übernimmt er nach dessen Tod als sein fleissigster Geselle, er freut sich über die Siege der Juden gegen die Araber, auch wenn er langsam zu alt geworden ist, selbst zu kämpfen.

… und nie schöpft jemand Verdacht, er übersteht sogar die Begegnung mit entfernten Verwandten, die unerwarteter Weise noch existieren und einen blonden Itzig zu treffen erwarteten. Aber die Lager… alles verändert sich in den Lagern, selbst das Aussehen…. sogar als er in späten Jahren einem alten Bekannten vom Schiff gegenüber bekennt, er sei Max Schulz, ein Massenmörder, man glaubt ihm nicht, er inszeniert eine Gerichtsverhandlung gegen sich selbst: man hält es für ein seltsames Spiel…. erst das jüdische Herz, das ihm transplantiert werden soll, weigert sich, in seiner Brust zu schlagen.

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Manchmal bleibt einem beim Lesen schon das Lachen im Hals stecken. Man kann noch nicht einmal sagen, Max Schulz, dieser Mensch mit dem Allerweltsnamen, sei uns als besonders schlechter Mensch geschildert worden. Im Gegenteil, aus sozialer Unterschicht stammend (die Mutter prostituiert sich, der (Stief)Vater schlägt und vergewaltigt ihn) schafft er mit Hilfe seines jüdischen Freundes und dessen Familie einen gewissen Aufstieg, erwirbt Bildung und Ausbildung, mithin gute Chancen für seine Zukunft. Was also verführt ihn, zum Massenmörder zu werden? Ist es die Chance, mit einem Schlag auch sozusagen offiziell (und nicht nur durch Geburt) auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen und Macht zu bekommen, das erlittene Unrecht, die erlebten Schmerzen zurückzahlen zu können, egal wem? Erliegt er einfach der Faszination der Lichtgestalt Hitler, der ihm erlösergleich befiehlt: „Steh auf und morde!“ Sicherlich ist die Szene, in der Hitler auf dem Ölberg zu den versammelten Menschen spricht, eine Schlüsselszene für das Buch. In dieser Versammlung erscheint Hitler gleich einem Messias und er setzt ein neues Göttergeschlecht ein in Deutschland und bietet den Menschen an, diesem beizutreten und zu huldigen. Und die Masse nimmt die Worte auf in sich, in ihre innere Leere und jubelt ihm in Verzückung zu…

Max Schulz ist eine Hülle, die alle Rollen spielen kann, er hat nichts eigenes. Er ist Judenfreund bis ihm etwas anderes mehr verspricht. Er ist SS-Mann und mordet, bis die Umstände ihn zwingen, damit aufzuhören. Und schließlich schlüpft er in die Haut seiner ehemaligen Opfer, als ihm dies opportun erscheint und wird zum Juden. All diese Rollen spielte er so perfekt, daß zwischen „Sein“ und „Schein“ kein Unterschied zu sein scheint, er ist der Konvertit, der bekanntlich immer noch ein wenig besser ist….

Natürlich, in den Figuren des Itzig Finkelstein, blond und groß, arisch aussehend wie aus dem Bilderbuch und des Max Schulz, im Aussehen wie aus dem „Stürmer“ [4] entsprungen, persifliert Hilsenrath die Stereotypen „Jude“ und „Arier“, die sicherlich heute noch in vielen Köpfen herumgeistern. Die Persiflage hört nicht beim Äußeren auf, die gebildete, strebsame Familie ist die jüdische, während die deutsche soziale Unterschicht darstellt. Ähnlich übrigens überzeichnet der Autor auch andere Personen der Geschichte wie z.B. die israelischen Untergrundkämpfer. Überhaupt gibt das Buch in dieser Hinsicht einen Schnelldurchgang in israelischer Geschichte, angefangen von der illegalen Einwanderung von Juden nach Palästina, der britischen Besatzung des Gebiets über die Staatsgründung bin hin zu den Kriegen mit den arabischen Nachbarstaaten.

Die lange Geschichte des Max Schulz von seiner Geburt bis zu seinem Ende erzählt Hilsenrath in einem oft der gesprochenen Sprache angepasstem Ton. Diese relativ einfache Sprache passt natürlich gut zu seinem einfachen Max Schulz mit dem Dachschaden, den er immer dann hervorholt, wenn er ihn gerade braucht. Im zweiten Teil des Romans (der seinerseits in 6 Bücher aufgeteilt ist) wird ein großer Teil der Geschichte in imaginären Monologen des falschen Itzig an die Adresse des toten erzählt, vllt ein Zeichen dafür, daß dieser Mord dann doch nicht so ganz an Schulz vorbei gegangen ist. Ansonsten mordete Schulz mit ungefähr derselben inneren Beteiligung wie er isst oder mit Frauen schläft oder atmet: es war sein Leben. Zum Teil ist der Text derb bis hin zum obszönen, besonders im ersten Buch, in dem die Minna Schulz eine Rolle spielt, kommt viel geschlechtliches vor, meist in Gossensprache.

Was bleibt nach dem Buch? Es ist seltsam, aber ich habe keine Meinung… Der Roman ist rein aus Tätersicht geschrieben, eines Täters, der nie als solcher erkannt wird, im Gegenteil, der als Opfer gesehen und behandelt wird. Dabei wirkt Schulz in seinem Eifer so harmlos, daß man ihm, von dem man weiß, wie wenig ihm das Morden ausmachte, kaum negative Gefühle entgegenbringt, ein Zwiespalt bricht da auf. Die angedeutete Erklärung der Wirkung Hitlers auf die Massen sind interessant, aber zu eindimensional. Vllt treffen sie auf eine bestimmte soziale Schicht zu, aber so einfach kann es nicht für alle gewesen sein, ein rauschhaftes Erleben, Verzückung und dann Totschlag und Mord….

Natürlich, ein Schelmenroman, einer tut schlimmes und läuft durch die Szene, ohne daß man ihn fassen kann oder es gar weiß. Eine Satire, so wird geschrieben. Aber abgesehen davon, daß ich das Buch gerne gelesen habe, weiß ich einfach nicht, was ich davon halten soll. Nun gut, vllt ist das ja sogar ein Ziel des Buches, gewohnte Gedankengänge ins Schlingern bringen.

Links und Anmerkungen:

[1] Hilsenrath interpretiert in diesen Passagen das Auftreten Hitlers vor den Massen als religiöses Ereignis, an anderer Stelle bezeichnet er die engsten Gefolgsleute des Führers als Apostel. Das erinnert natürlich sofort an Lems Gedanken in „Provokation
[2] Wiki-Artikel zur Kennzeichnung der Häftlinge in Konzentrationslagen
[3] Herta Müller: Atemschaukel
[4] Wiki-Artikel zum „Stürmer

Edgar Hilsenrath
Der Nazi & der Friseur
dtv, 2006, 480 S.