„Weißt du“, sagte er mit einem unsicheren Lächeln, „man muss im Leben oft schwere Wege gehen. Es hilft nichts. Aber immer, wenn wieder so ein Weg ansteht, dann denk dran: Reise bequem und am besten erster Klasse.“
Sobald es Winter wird, verfallen die Menschen in Deutschland für drei Monate in Winterschlaf. Keinen natürlichen, versteht sich, eher einen verordneten, mit Medikamenten herbeigeführten. Körper und Geist können sich vom stressigen Leben ausruhen und die Welt kann sich ebenfalls vom stressigen Menschen erholen.
Doch nicht jeder hat Lust auf diese Auszeit. Zum Beispiel Robert, ein desillusionierter Journalist, der dank Essstörung und Minderwertigkeitsgefühlen in „Waldesruh“, einer psychosomatischen Klinik nahe Göttingen, ist. Er entzieht sich dem „therapeutischen Pflichtprogramm“ und macht sich gemeinsam mit Annina und Kodowski, der eine ein Mitpatient mit rauer Schale, die andere eine Verkäuferin ohne Erfolg im Leben, auf einen Trip durch die verschneite und verschlafene Republik, gen Süden, nach München. Dank „Winter App“ zeigt ihnen die moderne Technik, wo noch Leben im Land ist und so treffen sie auf ihrem Weg seltsame Menschen, die sich ebenfalls dem Winterschlaf entziehen, finden jedoch vor allem immer mehr zu sich selbst.
„Es gibt Menschen, die wälzen sich ununterbrochen im Schlaf von einer Seite ihres Bettes zur anderen. Nie scheinen sie bequem liegen zu können. Ich bin so ein Mensch. Allerdings nicht nur nachts im Bett, verstehst du?“
Die Geschichte ist ein kleines Roadmovie, eine kleine Dystopie, enthält sicherlich manch autobiographischen Anteil (ein Blick in Leberts biographische Daten reicht sicherlich für erste eigene Interpretationen), ganz viel Philosophisches, aber noch mehr Melancholie und zwingt den Leser, sich auf sie einzulassen, um zur Belohnung eine Portion Entschleunigung zu erhalten.
Lebert erzählt ruhig und unaufgeregt, die Struktur seiner Worte und Sätze reicht aus, um dem Geschehen Bewegung zu geben und ist bildreich genug, um eintauchen und mitreisen zu können; manchmal ist sie sogar so bildreich, dass man nicht nur mitreist, sondern auch mitfühlt – nicht immer eine angenehme Sache, die einen oft genug dazu zwingt, den Blick auf sich selbst zu richten.
Ich hätte gerne noch mehr über diese Winterschlaf-Welt gelesen, die doch eher als Randelement dient, denn im Wesentlichen geht es ja um die Orientierung der Charaktere, vor allem um Robert und seine Gedanken und Gefühle. Das Buch hätte für mich auch gerne den doppelten Umfang haben können, aber wahrscheinlich hätte es dann nicht die Wirkung gehabt, die es auf mich hatte, denn gerade dass diese Geschichte mit nur knapp 160 Seiten auskommt und dennoch so viel Raum für so intensive Gefühle lässt, macht sie besonders.
Alles Übrige war Starre. Bewegungslosigkeit. War Schweigen. Allmählich gewöhnte man sich daran, dachte Robert. An die Großstadt ohne Straßenlärm. Es brauchte eine Weile, denn das Ohr setzte den Lärm gewissermaßen voraus und schuf ihn sich deshalb selbst. Bis man plötzlich aufhrochte. Bis einem aufging, dass er gar nicht da war.
Für dieses Buch vergebe ich fünf Sterne.
Autor: Benjamin Lebert
Titel: Im Winter dein Herz
Gebundene Ausgabe: 156 Seiten
Verlag: Hoffmann und Campe
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3455403602