Archiv für den Monat Mai 2014

Richard Mason/ Die geheimen Talente des Piet Barol

Richard Mason/ Die geheimen Talente des Piet BarolAmsterdam im Jahr 1907:
Der junge Piet Barol, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, jedoch eine gute Ausbildung genossen hat, ist gewillt, es im Leben zu etwas zu bringen.
Er bekommt dank eines Empfehlungsschreibens und seines außergewöhnlichen Charmes eine Stelle als Hauslehrer bei der vermögenden Hoteliers-Familie Vermeulen-Sickerts.
Sein ungewöhnlich gutes Aussehen, sein Talent für Sprache und Musik und sein Vermögen, jedermann um den kleinen Finger zu wickeln, scheinen ihm den Weg in die feine Gesellschaft zu ebnen. Doch sein Traum ist es, in Amerika das große Geld zu machen und er ist bereit, dafür viel zu riskieren …

Ehrlich gesagt habe ich von diesem Buch lediglich ein bisschen leichte Unterhaltung erwartet. Ich hatte es schon etwa ein Jahr ungelesen im Regal stehen – und könnte mich dafür ohrfeigen.
Was ich bekommen habe, war ein Meisterwerk der schönen Sprache und der bildlichen, fabelhaften Erzählkunst.
Richard Mason hat mich von der ersten Seite an mit seinen Worten verzaubert und das Amsterdam der Belle Époque vor meinen Augen auferstehen lassen, sodass ich das Buch eigentlich am liebsten nie beendet hätte.
Piet Barol ist nicht immer ein feiner Mensch, aber er weiß, was er will und was er dafür tun muss, und er scheut kein Risiko – wie könnte man so einen Protagonisten nicht ins Herz schließen?
Mit Freude habe ich gelesen, dass es eine Fortsetzung des Buches geben soll – ich kann es kaum erwarten!

 

Fünf Sterne.
5sterne

Autor: Richard Mason
Titel: Die geheimen Talente des Piet Barol
Originaltitel: History of a Pleasure Seeker
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Verlag: C. Bertelsmann Verlag
gelesen auf: Deutsch
ISBN-13: 978-3570101360

David Levithan/ Letztendlich sind wir dem Universum egal

David Levithan/ Letztendlich sind wir dem Universum egalJeder von uns hat sich sicherlich schon einmal vorgestellt, jemand anderes zu sein, ein anderes Leben zu führen, an einem anderen Ort zu leben, einfach mal in die Rolle eines anderen Menschen zu schlüpfen.
Für A ist das alles Normalität, er kennt es nicht anders.
Jeden Morgen erwacht er in einem anderen Körper, an einem anderen Ort, in einem anderen Leben.
Er selbst bezeichnet sich als Gast, als Treibgut. Nie weiß er, wer er am nächsten Morgen sein wird oder wo, er kann es nicht steuern. Jeden Tag lebt er das Leben eines anderen Menschen und versucht dabei, so unauffällig wie möglich zu bleiben und kein Chaos in den Leben der anderen zu hinterlassen, sich nicht einzumischen.

„Es ist schwer, im Körper von jemandem zu sein, den man nicht mag, weil man ihn trotzdem achten muss. In der Vergangenheit habe ich manchmal Schaden im Leben von anderen angerichtet und bin zu der Erkenntnis gekommen, dass es mich nicht loslässt, wenn ich Mist baue. Also versuche ich, vorsichtig zu sein.“

A selbst hat keinen Namen, keine Eltern, keine Freunde – bis er auf Rhiannon trifft.

„Ich bin Treibgut, und so einsam das mitunter sein kann, es ist auch enorm befreiend. Ich werde mich niemals über jemand anderen definieren. Ich werde nie den Druck von Gleichaltrigen oder die Last elterlicher Erwartung spüren. Ich kann alle Teile eines Ganzen betrachten und mich auf das Ganze konzentrieren, nicht auf die Teile. Ich habe gelernt zu beobachten, weit besser als die meisten anderen Menschen. Die Vergangenheit setzt mir keine Scheuklappen auf, die Zukunft motiviert mich nicht. Ich konzentriere mich auf die Gegenwart, denn nur in ihr ist es mir bestimmt, zu leben.“

Der Wunsch, sein Leben mit ihr zu verbringen, wird so stark, dass er zum ersten Mal gegen seine Regeln verstößt. Doch wie soll eine Liebe funktionieren, wenn man nie weiß, wer man am nächsten Tag ist? Wie soll Rhiannon jemanden lieben, der jeden Tag anders aussieht, mal Mädchen, mal Junge ist? Genügt es, dass das Innere, das Wesen, immer dasselbe ist, die Hülle jedoch nicht?

„Gestern ist eine andere Welt. Ich will wieder dorthin zurück.“

Ich finde es unglaublich schwer, dieses Buch angemessen zu besprechen, zu sehr hat es mich beeindruckt. Davon abgesehen gibt es natürlich schon haufenweise tolle Besprechungen zu dem Buch, hier zum Beispiel,  hier, hier oder auch hier.

David Levithan hat ein kluges, sensibles, wundervolles Buch über die Liebe und das Erwachsenwerden geschrieben.
Die Idee, dass jemand jeden Tag in einem anderen Körper steckt, klingt zunächst seltsam, doch Levithan hat es geschafft, dass nichts an diesem Buch unstimmig ist.
Zwar wird nicht jede Frage beantwortet – warum ist A so, warum sind die Körper, in die er schlüpft, alle so alt wie er, warum befinden sie sich immer im selben Bundesstaat der USA wie der Körper, in dem A am Tag zuvor war? –, die Beantwortung dieser Fragen ist aber gar nicht notwendig, denn sie sind im Grunde für den gesamten Plot vollkommen irrelevant. Es geht hier um etwas anderes. Um die Frage nämlich, ob Liebe unabhängig vom Geschlecht und vom Körper überdauern und funktionieren kann – und um die Frage, ob man aus Liebe wirklich alles tun darf, oder ob nicht vielmehr der Verzicht, das Loslassen, das größte Zeichen wahrer Liebe sind.

„So wird es immer für mich sein. Eingesperrt in einem Zimmer. Gefangen in mir selbst.“

David Levithan/ Letztendlich sind wir dem Universum egal

„Anfangs war es schwer, einen Tag nach dem anderen durchzustehen, ohne ernsthafte Beziehungen zu knüpfen oder Veränderungen im Leben anderer zu hinterlassen.“

Wirkt A zu Beginn der Erzählung noch recht besonnen, kühl, als habe er sich eben mit seiner seltsamen Existenz abgefunden, bricht im Laufe der Handlung all seine Verzweiflung und Hilflosigkeit auf. Er fühlt sich ausgeliefert, gefangen, wie ein Spielball des Universums. Dabei treten durchaus auch unangenehme Charakterzüge zutage.

Mir hat sehr gefallen, mit welcher Genauigkeit Levithan A’s Gefühle und Gedanken beschreibt, ohne dabei kitschig zu werden. Insgesamt zeichnet sich der Schreibstil durch eine ideale Mitte aus: Nah genug dran, um in die Geschichte eintauchen, aber weit genug weg, um von außen einen Blick auf alles werfen zu können.
Auch das Ende, an dem sich ja, liest man mal einige Rezensionen, offensichtlich die Geister scheiden, hat mir in seiner offenen Art gut gefallen.
A ist ein Charakter mit Ecken und Kanten, der,  obwohl er es zu wissen glaubt, seinen Platz im Leben noch nicht gefunden hat und auf der Suche ist.
Man weiß nicht genau, welches Geschlecht A eigentlich hat, ich habe nun „er“ geschrieben, weil sich das für mich am stimmigsten anfühlte, möchte diesen ungewissen Punkt jedoch nicht unerwähnt lassen.

Das Cover und die Aufmachung des Buches finde ich sehr gelungen und ansprechend, ich hatte das Buch richtig gerne in der Hand und bin doch sehr froh, mich für die Printausgabe und gegen das eBook entschieden zu haben. Ich freue mich schon sehr darauf, andere Bücher von David Levithan zu lesen.

Fünf Sterne.
5sterne

Autor: David Levithan
Titel: Letztendlich sind wir dem Universum egal
Originaltitel: Every Day
Gebundene Ausgabe: 400 Seiten
Verlag: FISCHER FJB
Gelesen auf: Deutsch
ISBN-13: 978-3841422194

Toby Barlow/ Baba Jaga

Toby Barlow/ Baba JagaWill, ein mäßig erfolgreicher amerikanischer Werbetexter, lernt im Paris der 50er Jahre die bezaubernde Zoja kennen.
Was er nicht weiß: Zoja ist eine russische Hexe, die seit Jahrhunderten um keinen Tag gealtert ist, sich von reichen Männern aushalten lässt und diese irgendwann „entsorgt“. Unglücklicherweise war sie bei ihrem letzten Liebhaber ein wenig ungeschickt und hat nun die Polizei auf den Fersen.
Doch auch Will ist nicht das, was er auf den ersten Blick zu sein scheint, denn hinter der Fassade des Werbetexters versteckt sich ein CIA-Agent, dem das Glück in letzter Zeit allerdings nicht sonderlich hold war und der sich ebenfalls vor einigen Leuten verstecken muss …

„Ein heißes Bad erinnerte sie fast immer an die grimmige, eisige Kälte, die im Laufe der Jahre so oft die Fänge in ihre Knochen geschlagen hatte. Sie musste mit diesen Erinnerungen vorsichtig sein. Wenn sie sie unerwartet überfluteten, ausgelöst vielleicht durch etwas so Geringfügiges wie den Duft blühender Nelken oder den Geschmack von Anis, konnten sie sie überwältigen und ihr die Kräfte rauben. Aber sich jene tödlichen Tage von Eis und Kälte ins Gedächtnis zu rufen, während sie behaglich in einem warmen Bad lag, fühlte sich ungefährlich an. Es war so, als würde der wilde Jäger Frost sie, von der dichten Wolke aufsteigenden Dampfs umwallt und umhüllt, nicht finden können.“

Ich war sehr gespannt auf „Baba Jaga“, hatte ich doch nur Gutes über dieses Buch gehört, ja, regelrechte Begeisterungsstürme. Seit meiner Kindheit liebe ich Geschichten über die Baba Jaga und alleine deswegen musste ich dieses Buch lesen.
Leider kann ich mich nicht so wirklich den Begeisterungsstürmen anschließen. Die Rahmenhandlung hat mir gefallen, allein die Idee schon, Baba Jaga meets CIA-Agent.
Toby Barlow kann sehr schön schreiben, gar keine Frage, vor allem gefällt mir das Vokabular, seine Sätze klingen melodisch und geschmeidig; dennoch wurde ich mit dem Buch nicht so richtig warm. Die immer wieder eingestreuten Rückblenden, die Hexenlieder und das oft langatmige Geschehen haben es mir nicht ermöglicht, in die Geschichte einzutauchen, irgendwie war mir das alles zu durcheinander und es tauchten zu viele Personen auf.
„Baba Jaga“ ist ein nettes Buch, aber nachhaltig in Erinnerung wird es mir eher nicht bleiben.

Drei Sterne.
3sterne


Autor:
Toby Barlow
Titel: Baba Jaga
Originaltitel: Babayaga
Gebundene Ausgabe: 544 Seiten
Verlag: Atlantik
Gelesen auf: Deutsch
ISBN-13: 978-3455600001

Nicola Karlsson/ Tessa

Nicola Karlsson/ TessaTessa ist jung, schön und lebt mitten in Berlin. Sie geht viel aus, hat Dates, modelt und dreht Werbespots – auf den ersten Blick alles wunderbar. Doch Tessa ist nicht glücklich.

Ständig pleite, wandert sie von einer Bar zur nächsten, feiert und trinkt. Jeden Tag und immer mehr. Männer kommen und gehen, mit manchen ist der Sex einvernehmlich, mit anderen nicht.

Tessa nimmt alles in Kauf, um nicht allein zu sein. Richtige Freundschaften gibt es kaum noch in ihrem Leben, aber solange genug Alkohol und Drogen da sind, ist es ihr im Grunde egal, mit wem sie unterwegs ist, Hauptsache, sie ist nicht allein. Denn wenn sie allein ist, kommt die Angst, gegen die auch der viele Alkohol, die vielen Tabletten und das Koks nicht ankommen …

Nicola Karlsson hat mit „Tessa“ ein Buch geschrieben, das wie ein Schlag in den Magen ist. Tessa hätte eigentlich alle Optionen, doch sie verschwendet ihr Leben, rutscht immer mehr ab, stößt die wenigen Menschen, die ihr wohlgesonnen sind und ihr helfen wollen, vor den Kopf. Sie ist egoistisch, exzessiv, oft unangenehm, sie will, was sie nicht hat und wenn sie es hat, will sie es nicht mehr.

„Japsend holt sie Luft. Tränen laufen ihre Wangen hinab. Sie schleppt sich zurück zum Bett, will nur weiterschlafen. Schlafen, morgen ist vielleicht alles wieder gut. Sie kann sich nicht bewegen. Schwer drückt sich ihr Körper in die Matratze. Nicht mal einen Selbstmordversuch wäre es jetzt wert aufzustehen. Augen zu. An was Schönes denken. Gibt es was Schönes in dieser Welt? Irgendwas muss es geben, sie ist sich sicher. Und während sie hofft und krampfhaft nach einem schönen Gedanken sucht, schläft sie wieder ein.“

In einigen Rezensionen las ich den Vorwurf, das Buch würde jedes nur erdenkliche Klischee bedienen – ja und? Klischees sind nun einmal Klischees, weil es sie tatsächlich gibt, und zwar verdammt oft. Wer die typischen Berlin-Mitte-Szenegänger kennt, der weiß auch, dass „Tessa“ nicht überzogen ist, sondern verdammt nah an der Realität einer Generation, die sich durchs Leben feiert und mal hier, mal da jobbt, irgendwie orientierungslos und ohne Ziel, dafür oft mit Depressionen und einer Menge Frust, gegen die sie wiederum feiern gehen, immer auf der Suche nach Ablenkung und Flucht aus der Realität – ein Teufelskreis.

„Sie will ihn nicht anrufen, denn er soll zuerst bei ihr anrufen. Am meisten macht ihr der Gedanke Angst, sie könnte ihn mit der Blonden entdecken, aber auch sie sieht sie nie, dabei geht sie fast jede Nacht aus. Und jede Nacht ist sie betrunken. Aber noch ist es Sommer, und den muss man genießen, obwohl sie die Tage meistens verschläft. An morgen will sie jetzt nicht denken, sie will an gar nichts denken. Eigentlich will sie nur den nächsten Drink.“

Wer glaubt, dass Protagonisten nur sympathisch oder unsympathisch sein sollten, kennt vermutlich auch außerhalb von Büchern nur Schwarz oder Weiß. Nicola Karlsson beschreibt Tessa unheimlich intensiv, und dass Tessa eben keine wirkliche Sympathieträgerin ist, sondern oft genug einfach nur Wut in einem erzeugt, damit können einige Leser anscheinend nicht damit umgehen. Anders kann ich mir die Rezensionen nicht erklären, in denen einfach nur steht, Tessa sei unsympathisch und deswegen solle man das Buch nicht lesen. Bumms.

Ich frage mich ganz ehrlich, wieso manche Menschen nicht begreifen, dass es eine enorme schriftstellerische Leistung ist, eine Protagonistin so zu gestalten, dass sie Wut im Leser erzeugt oder auch Ablehnung. Tessa empfindet Schmerz, hat Angst, ist einsam, gleichzeitig fügt sie anderen Schmerzen zu, stößt sie weg, ist sprichwörtlich oft zum Kotzen – genau das macht sie so echt.

„… und sie nutzt den Moment, ihre Hände schnellen hervor, und sie zerkratzt seinen Rücken, so tief und so oft sie kann. Er schubst sie von sich.
‚Au! Scheiße, das tut weh. Das brennt.‘
‚Und was sagt deine Frau dazu?‘ Sie lacht theatralisch. ‚Hast du verdient, du Sau. Du betrügst deine Frau. Und wie erklärst du ihr das?‘
‚Sie wird es nicht zu sehen bekommen.‘ Er steht auf, zieht seine Hose hoch und greift nach seinem Hemd.
‚Du bist so ein Schwein. Und was machst du dann? Rennst mit T-Shirt rum oder was? Sie will es nicht sehen, also sieht sie es nicht. Sie weiß es doch eh. Welche Frau kriegt es nicht mit, wenn der Mann mit fremdem Muschigeruch auftaucht? Diese alte Frau scheint so scheiß dämlich zu sein. Wie krank ist das denn?‘
[…]
Die Tür fällt ins Schloss. Wieder ist sie allein. Die Wohnung scheint nun noch verlassener.“

Das hier ist kein Buch für Leute, die nur Happy-End-Schmalz und rosa Wattewölkchen wollen – und umgekehrt sind das nicht die Leser, die ich diesem herausragenden Buch wünsche.

Die Art und Weise, wie die Autorin die Geschichte erzählt, gefällt mir ausnehmend gut, weist sie doch viele Elemente einer Kurzgeschichte auf. Man erfährt nicht viel über Tessas Vorgeschichte, man stolpert unvermittelt mitten hinein in ihr Leben, in eine Phase, die mehr als schwierig und unglücklich ist, man beobachtet sie – und geht dann wieder. Die Sprache ist schonungslos und ungeschnörkelt und zielt nicht darauf ab, dass der Leser sich wohlfühlt.

„Tessa“ ist für mich ein unheimlich intensives, atmosphärisches, oft unangenehmes Buch und ich ziehe meinen Hut vor Nicola Karlsson und ihrer gnadenlosen Erzählung. Ich hoffe sehr, dass man von dieser Autorin noch einiges zu lesen bekommt.

Nicht jedes Buch muss Wohlbefinden auslösen, im Gegenteil: Es sind meiner Meinung nach genau solche Bücher, die nachwirken, die lange noch im Gedächtnis bleiben, die einem eine neue Sicht auf die Dinge ermöglichen oder eigene Beobachtungen bestätigen, die vielleicht auch anregen, selbst etwas zu verändern, weil sie einem den Spiegel vorhalten.

Absolute Empfehlung.

Fünf Sterne.

5sterne

Autorin: Nicola Karlsson
Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
Verlag: Graf Verlag
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3862200467