Itsik liebt Bücher und die Literatur. Itsik liebt die Sprache seiner Heimat, eine Sprache, die fast vergessen ist, aus einer Heimat, die es nicht mehr gibt. Und Itsik liebt Sascha, die Tochter des Metzgers.

Jiddisch (יידיש oder אידיש, wörtlich jüdisch, kurz für jiddisch-daitsch, jüdisch-deutsch) ist eine rund tausend Jahre alte Sprache, die von den aschkenasischen Juden in weiten Teilen Europas gesprochen und geschrieben wurde und von einigen ihrer Nachfahren bis heute gesprochen und geschrieben wird. Es ist nach allgemeiner Meinung eine aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene westgermanische, mit hebräischen, aramäischen, romanischen, slawischen und weiteren Sprachelementen angereicherte Sprache […] Jiddisch war eine der drei jüdischen Sprachen der aschkenasischen Juden, neben dem weitestgehend der Schriftlichkeit vorbehaltenen Hebräisch und Aramäisch. Es wurde nicht nur als gesprochene, sondern auch als mit hebräischen Schriftzeichen geschriebene und gedruckte Alltagssprache verwendet.
Aus: Wikipedia
Ein junger Mann, selbst kein Jude und nur rudimentär des Hebräischen mächtig, wird durch Zufall Archivar der „Jewish Cultural Organization“. Dort sammelt er Tag für Tag Judaika, geschenkte, hinterlassene Bücher, allesamt verfasst auf Jiddisch.
Doch wie ich an meinem ersten Arbeitstag feststellte, waren die Bücher gar nicht auf Hebräisch verfasst. Sie waren in Jiddisch geschrieben, einer Sprache, die mit ihrer uralten Verwandten ungefähr so viel gemein hat wie Englisch mit Latein. Da die beiden Sprachen dasselbe Alphabet verwenden und einen kleinen gemeinsamen Wortschatz besitzen, erscheinen sie dem ungeübten Auge gleich, doch tatsächlich unterscheiden sich das Hebräische und das Jiddische grundlegend. Meine Aufgabe bestand also darin, Bücher zu sortieren, die ich nicht lesen konnte.
Wissbegierig eignet sich der junge Mann nach und nach Grundkenntnisse des Jiddischen an. Eines Tages begegnet er durch seine Arbeit dem betagten Itsik Malpesch, seines Zeichens eine der letzten Dichterlegenden der jiddischen Sprache. Und so wird aus dem jungen Mann der Übersetzer der Lebensgeschichte des Itsik Malpesch, die im Russland der Zaren begann und mit der glühenden Liebe zu Sascha, der Tochter des Metzgers, die im Kindesalter der Familie Malpesch während eines Pogroms das Leben rettete – just an dem Tag, an dem Itsik das Leben erblickte …
די צײַט איז טײַערער פֿון געלט
Di tsayt iz tayerer fun gelt.
(Die Zeit ist wertvoller als Geld.)
Itsik Malpesch und Sascha Bimko, das ist die ganz große Liebe.
Tragischerweise weiß Sascha ganze 20 Jahre lang nichts davon, denn Itsik liebt sie seit frühester Kindheit aus der Ferne, ohne sie je wirklich zu Gesicht bekommen zu haben. Allein die Legende ihrer heldenhaften Tat am Tag seiner Geburt feuert seine Liebe an.
Itsik -noch ein Junge- gelangt auf der Flucht vor den „khappers“, Kinderfängern, die Jungen als Kanonenfutter in den Krieg verkaufen, nach Odessa, und nach einem langen Aufenthalt dort, währenddessen er die Kunst des Zeitungschreibens erlernt hat und den ersten Kriegsunruhen entgehen konnte, eher unfreiwillig nach New York.
Krieg, Armut, Elend, all das ist für Itsik nicht die schlimmste Qual, denn er sehnt sich allein nach seiner Sascha und, da er diese Sehnsucht nicht stillen kann, transportiert er sie in seine Gedichte.
דאָס גאַנצע לעבן איז אַ מלחמה
Dos gantse lebn iz a milkhome.
(Das ganze Leben ist ein Krieg.)
Malpesch und die Poesie werden zu einer Einheit, die Sprache, seine Sprache, zu seinem Lebenszweck und Lebenserhalt im ihm immer fremd bleibenden Amerika. Er dichtet und er sammelt Bücher, rettet die jiddische Literatur und die jiddische Sprache, fern der Heimat.
„Mach dir die Sprache zur Heimat, Itsik. Und mach sie dir auch zur Geliebten. Wenn du das tust, wirst du nie heimatlos sein und nie an gebrochenem Herzen leiden, das schwöre ich dir. Du wirst jeden Morgen aufstehen und wissen, dass die Welt dir gehört, wo immer du dich auch gerade befinden magst.“
Dabei ist er nicht immer Sympathieträger, nicht immer nur das Opfer, nicht immer der strahlende Held und damit spiegelt sich in ihm, der Hauptfigur des Buches, auch gleichzeitig der rote Faden wider: Nichts ist nur gut oder schlecht, Gewalt kann auch in Gestalt von Ruhe erscheinen, Liebe kann Hoffnung und Untergang zugleich sein.
זײַן וואָרט זאָל זײַן אַ בריק, וואָלט איך מורא געהאַט אַריבערצוגיין
Zayn vort zol zayn a brik, volt ikh moyre gehat aribertsugeyn.
(in etwa: Wären seine Worte eine Brücke, würde ich nicht hinübergehen wollen)
„Berlin hat die jiddische Sprache an die Wand gestellt, aber Tel Aviv hat abgedrückt!“
Peter Manseau verwebt zwei Handlungsstränge, nämlich die Lebensgeschichte des Itsik Malpesch und die Erzählung seines Übersetzers, zu einer Einheit.
Er erzählt die Geschichte der Juden des 20. Jahrhunderts, ohne sie in das Korsett der Opferrolle zu zwängen. Seine Protagonisten sparen nicht mit Kritik, Kritik an der Gesellschaft, an der Politik von damals und heute und auch nicht mit Kritik am eigenen Volk.
Itsik Malpesch erfährt Gewalt, übt sie aber auch aus, und überhaupt ist Gewalt in ihren vielen Formen und Erscheinungen das zentrale Thema des Buches, angefangen bei den Pogromen und dem grausamen Tod des Metzgers über die Gänserupffabrik, Kneipenschlägereien, Welt- und Bandenkrieg bis zum gewaltsamen Abriss des Gebäudes, in dem die wohl größte jiddische Literatursammlung unterzugehen droht.
Dabei gelingt es Manseau, ihr Ausmaß und ihren Schrecken zu transportieren, ohne in Hektik zu verfallen oder eine laute, brachiale Schreibweise zu verwenden, im Gegenteil: Gerade durch den ruhigen Erzählfluss wird deutlich, wie einschneidend und gewaltig Krieg und Liebe, Verlust und Erfolg sein können.
Und über allem schwebt die Frage, ob das Leben tatsächlich eine Aneinanderreihung von Zufällen ist, oder eben doch „baschert“, vorherbestimmt.
Ganz nebenbei bringt der Autor vor allem durch den Handlungsstrang des Übersetzers dem Leser die jiddische Sprache näher, die ebenso facettenreich ist wie Malpesch und die ebenso unter den Geschehnissen des 20. Jahrhunderts leiden musste wie das Volk, dem sie entsprungen ist.
Aber was mich selbst betrifft, weiß ich: Gegen die Gewalt auf dieser Welt kann ich nur angehen, indem ich mit meinem Leben demonstriere, dass nichts vorbestimmt, nichts baschert ist. Wenn ich mich von einer Liebe abwenden kann, die unvermeidlich erscheint, dann besteht vielleicht die Chance, dass andere sich von deren Gegenteil abwenden werden, von dem Hass, der keine Vernunft und kein Ende zu kennen scheint.
Bitte vergib mir meine Entscheidung, ich habe sie einzig und allein aus einem Grund getroffen: Nur die Möglichkeit, wählen zu können, gibt mir Hoffnung.
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Zwei Jahre meines Studiums verbrachte ich nicht mit Kriegen, Theorien oder Seminaren, sondern mit der jiddischen Sprache. Sie lernen zu können war ein wahrer Glücksfall, unser Kurs war klein, das allgemeine Interesse an dieser fast ausgestorbenen Sprache nicht besonders groß. Da für mich schon damals vor allem die Zeit des Nationalsozialismus von Interesse war, und damit auch die Shoa, waren mir schon öfter jiddische Quellen unter die Augen gekommen.
Selbst wenn man das hebräische Alphabet beherrscht, kann man nicht „mal eben“ Jiddisch entziffern, diese Erfahrung macht auch der Übersetzer in diesem Roman und so ging es auch mir.
Jiddisch ist so viel mehr. Gesprochen versteht man einiges, da viele Elemente aus der deutschen Sprache stammen; auch in transkribierter Form kann man vieles verstehen.
In Schriftform sieht es da schon etwas anders aus.
Im ersten Jahr haben wir gelernt, gedrucktes Jiddisch zu verstehen, zu lesen und zu schreiben. Im zweiten Jahr befassten wir uns mit handschriftlichem Jiddisch, das noch mal ein ganz anderer Schnack ist als das gedruckte. Das ist in etwa vergleichbar mit unseren heutigen Handschriften und Schriften in Sütterlin, Schriftbuchstabe und Druckbuchstabe haben oft nicht allzu viel Ähnlichkeit miteinander.
Es ging in unserem Kurs nicht darum, Jiddisch sprechen zu können, sondern nur um das Verständnis der Sprache, auf dass wir Historiker unsere Quellen anständig erforschen und verwerten können. Zwei Jahre lang haben wir nur Jiddisch gelernt und ich kann bis heute keinen anständigen Satz sprechen, dafür aber ganz annehmbar Briefe und Texte verstehen und übersetzen.
Ich habe mich damals in die Sprache verliebt und ich habe es sehr genossen, mich so intensiv mit ihr befassen zu können.
Dann kam das Leben daher und wie das oft so ist, vergaß ich mit der Zeit meine Liebe zum Jiddischen.
Peter Manseau und die „Bibliothek der unerfüllten Träume“ haben mich daran erinnert, wie wunderbar diese Sprache ist und wie viel Freude sie mir schon bereitet hat.
Ein wenig davon findet man übrigens auch hier im Blog: Das Foto im Header zeigt einen Ausschnitt aus einem meiner Lieblingsbücher, welches ich in signierter Ausgabe besitze (und hüte wie meinen Augapfel 😉 ) – „Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk“ von Jizchak Katzenelson in der Bearbeitung und Übersetzung von Wolf Biermann.
Die „Bibliothek der unerfüllten Träume“: Stilistisch wunderbar, inhaltlich noch wunderbarer – fünf Sterne.

Autor: Peter Manseau
Titel: Bibliothek der unerfüllten Träume
Originaltitel: Songs for the butcher’s daughter
Taschenbuch: 448 Seiten
Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag
gelesen auf: Deutsch
ISBN-13: 978-3423140461