Archiv der Kategorie: Historisches

Angelika Felenda/ Der eiserne Sommer

„Ja, lesen S‘ nur, was da steht“, sagte Steiger. „Das ist wirklich unglaublich. Der Konvoi mit dem Erzherzog ist einfach weitergefahren, obwohl bereits eine Bombe auf die Fahrzeuge geworfen worden war. Null Sicherheitsvorkehrungen. Und dann hat sich der Fahrer auch noch verfahren! Und ist umständlich umgekehrt, damit der Attentäter ja genügend Zeit g’habt hat, die Majestäten totzuschießen.“
Reitmeyer blickte auf das Bild unter der Schlagzeile. „Der fährt in einem offenen Wagen durch Sarajewo? Durch ein Gebiet, das die Österreicher annektiert haben?“
„Sag ich doch!“, rief Steiger. Wenn der schon einen Besuch im Pulverfass von Europa machen muss, hätt‘ man wenigstens für einen anständigen Fahrer sorgen müssen, nicht so einen Hornochsen.“

Angelika Felenda/ Der Eiserne Sommer

Es ist Sommer 1914.
Der Kolonialismus ist auf seinem Höhepunkt, Europa greift nach der Welt, der Industrialismus hat die Gesellschaft verändert, politische Krisen an allen Ecken, kurz: Die Welt ist im Umbruch.
Und nun fällt auch noch Erzherzog Franz Ferdinand, der Thronfolger Österreich-Ungarns, gemeinsam mit seiner Gattin einem Attentat zum Opfer. Noch weiß man nicht, dass dieses Attentat der Auslöser des Ersten Weltkriegs sein wird und es wird auch noch einige Zeit dauern, bis der europäischen Bevölkerung das Ausmaß bewusst wird.

„Ein neuer Balkankrieg, meinen Sie? Ich weiß nicht“, sagte Reitmeyer. Er ging zu seinem Schreibtisch hinüber und starrte einen Moment auf die Aktenberge. „Wieder eine Krise.“ Dann drehte er sich zu Klotz um. „Aber haben wir nicht ständig Krisen? Mal geht’s um Nordafrika, das andere Mal um Bosnien. Vor drei Jahren haben wir alle gedacht, die zweite Marokkokrise wäre der Startschuss für den großen europäischen Krieg. Aber jedes Mal ist es wieder abgewendet worden. Man hat sich verständigt. Nichts ist passiert. Und selbst die ewigen Balkankrisen …“
„Der Balkan“, sagte Steiger verächtlich. „Ein Haufen Straßenräuber, Umstürzler und Terroristen. Ist längst an der Zeit, dass da drunten mal einer aufräumt.“

Trotz der Brisanz läuft das Leben in München in gewohntem Gang weiter und auch die Polizei hat wie üblich zu tun, denn Diebe und Mörder nehmen keine Rücksicht auf weltpolitische Krisen.
Eine Reihe von Todesfällen beschäftigt Kommissär Sebastian Reitmeyer. Besonders der anonyme Tote aus der Isar bereitet ihm Kopfzerbrechen, denn was zunächst nach Ertrinken aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als filigraner Mord.
Auf der Suche nach der Identität des Toten führt die Spur in Militärkreise, vor allem in das Café Neptun, einem Treffpunkt für Homosexuelle aus gutbürgerlichen Kreisen und dem Militär. Kommt der Mörder etwa aus diesen gehobenen Schichten? Gegen das Militär darf Reitmeyer nicht ermitteln, doch er will dem Täter unbedingt auf die Spur kommen und legt sich dabei mit jedem an, der ihn zu behindern versucht …

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„Der eiserne Sommer“ ist ein gelungener Debut-Roman, dessen Handlung sorgfältig zwischen Lokalkolorit und Weltgeschehen platziert ist.
Die Hauptfiguren – immer mal wieder mit Mundart versehen – sind interessant gezeichnet, und dank ihrer Blickwinkel bekommt man einen umfassenden Einblick in die damalige Zeit inklusive ihrer gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlungen. Man spürt die Umbruchstimmung quer durch alle Gesellschaftsschichten hindurch und die aufgeheizte politische Atmosphäre mit ihren Ressentiments und dem wachsenden Nationalismus, und man sieht in den dunklen, stinkenden Abgrund, der sich hinter der Maske von Sitte, Anstand und Moral verbirgt.
Das Ganze wird in einer leichten, bildreichen Sprache erzählt, die allerdings bisweilen etwas langatmig wird – vor allem am Ende hätten ruhig ein paar Seiten zusammengestrichen werden können, das hätte der gelungenen Geschichte keinen Abbruch getan.
Besonders gefallen hat mir, dass man dank Kommissär Reitmeyer einen interessanten Einblick in das pathologische Wissen und Vorgehen sowie die Ermittlungsmethoden der damaligen Zeit erhält.

Von mir gibt es für Kommissär Reitmeyers ersten Fall vier Sterne.
4sterne

Autorin: Angelika Felenda
Titel: Der eiserne Sommer
Taschenbuch: 435 Seiten
Verlag: Suhrkamp Verlag
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3518465422

Paul Kohl/ 111 Orte in Berlin auf den Spuren der Nazi-Zeit

Peter Kohl: 111 Orte in Berlin auf den Spuren der NazisIch liebe liebe liebe es, mit einem Buch in der Hand (m)eine Stadt zu erkunden.

Nun lebe ich ja schon recht lange in Berlin, habe während meines Studiums jahrelang als Stadtführerin gearbeitet und allein deswegen ohnehin alles über die Stadt verschlungen, was mir so in die Finger kam. Wirklich Neues erwarte ich daher kaum noch von Berlin-Büchern, dieses Büchlein hat mir nun allerdings doch so einiges gezeigt, was ich noch nicht kannte, viel Vergessenes in Erinnerung gerufen und war mir in den letzten Wochen bei einigen Stadtspaziergängen ein treuer Begleiter.

Die meisten Sachen kannte ich zwar schon (bspw. die Blindenwerkstatt von Otto Weidt, das Jüdische Waisenhaus, die „Euthanasie“-Zentrale, die Comedian Harmonists, den Flakturm Humboldthain usw.), fand aber die Aufbereitung sehr gelungen.

So findet man die Beschreibung der Historie auf der linken Seite und auf der gegenüberliegenden Seite zwei Abbildungen, einmal aus der Zeit des Nationalsozialismus und darunter aus hePeter Kohl: 111 Orte in Berlin auf den Spuren der Nazisutiger Zeit, was die eindeutige Identifikation der Orte ermöglicht. Auch die Zusammenstellung der einzelnen Orte finde ich gut durchdacht.

 

Und dann waren da eben doch einzelne Sachen, die ich bislang nicht kannte.
Zum Beispiel wusste ich nicht, wo Adolf Hitlers Bruder seine Kneipe hatte, von der „Roten Kapelle“ hatte ich irgendwann zwar schon mal gehört, kannte aber weder Details noch den Ort und ebenso ging es mir mit der Fahnenfabrik Geitel, dem Großmufti von Jerusalem und seiner nationalsozialistischen Propaganda sowie dem Murellenberg.

Dadurch, dass das Buch vPeter Kohl: 111 Orte in Berlin auf den Spuren der Nazisom Titel her auf 111 Orte begrenzt ist, fehlen naturbedingt einige Orte, das tut dem Buch insgesamt aber keinen Abbruch.

Wer sich für Berlin und seine Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus interessiert und die Standard-Städteführer leid ist, wird an diesem Buch sicherlich Gefallen finden.

 

5sterne

Autor: Paul Kohl
Titel: 111 Orte in Berlin auf den Spuren der Nazi-Zeit
Broschiert: 240 Seiten
Verlag: Emons
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3954512201

Richard Mason/ Die geheimen Talente des Piet Barol

Richard Mason/ Die geheimen Talente des Piet BarolAmsterdam im Jahr 1907:
Der junge Piet Barol, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, jedoch eine gute Ausbildung genossen hat, ist gewillt, es im Leben zu etwas zu bringen.
Er bekommt dank eines Empfehlungsschreibens und seines außergewöhnlichen Charmes eine Stelle als Hauslehrer bei der vermögenden Hoteliers-Familie Vermeulen-Sickerts.
Sein ungewöhnlich gutes Aussehen, sein Talent für Sprache und Musik und sein Vermögen, jedermann um den kleinen Finger zu wickeln, scheinen ihm den Weg in die feine Gesellschaft zu ebnen. Doch sein Traum ist es, in Amerika das große Geld zu machen und er ist bereit, dafür viel zu riskieren …

Ehrlich gesagt habe ich von diesem Buch lediglich ein bisschen leichte Unterhaltung erwartet. Ich hatte es schon etwa ein Jahr ungelesen im Regal stehen – und könnte mich dafür ohrfeigen.
Was ich bekommen habe, war ein Meisterwerk der schönen Sprache und der bildlichen, fabelhaften Erzählkunst.
Richard Mason hat mich von der ersten Seite an mit seinen Worten verzaubert und das Amsterdam der Belle Époque vor meinen Augen auferstehen lassen, sodass ich das Buch eigentlich am liebsten nie beendet hätte.
Piet Barol ist nicht immer ein feiner Mensch, aber er weiß, was er will und was er dafür tun muss, und er scheut kein Risiko – wie könnte man so einen Protagonisten nicht ins Herz schließen?
Mit Freude habe ich gelesen, dass es eine Fortsetzung des Buches geben soll – ich kann es kaum erwarten!

 

Fünf Sterne.
5sterne

Autor: Richard Mason
Titel: Die geheimen Talente des Piet Barol
Originaltitel: History of a Pleasure Seeker
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Verlag: C. Bertelsmann Verlag
gelesen auf: Deutsch
ISBN-13: 978-3570101360

[Gastrezension] Edgar Hilsenrath/ Der Nazi und der Friseur

Nach meinem Beitrag zum 27. Januar meldete sich der von mir sehr geschätzte Flattersatz bei mir und bekundete Interesse an Edgar Hilsenraths Buch „Der Nazi und der Friseur“.
Ich freue mich sehr, euch nun seine Rezension der Extraklasse präsentieren zu dürfen. Und dir, lieber Flattersatz, recht herzlichen Dank!

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Es ist schon eine provozierende Konstellation, die der Autor für seinen Roman gewählt hat. „Der Nazi & der Friseur“: ein makabres Rollenspiel, in dem der Max Schulz die Hauptrolle innehat. Aber der Reihe nach…

Im Mai 1907 wurden in einem kleinen schlesischen Städtchen, Wieshalle, zwei Jungen geboren, praktisch gleichzeitig: der Max Schulz und der Itzig Finkelstein. Noch spielt es zwar nicht die große Rolle (das sollte sich später dann ändern), aber so wie der kleine Itzig Finkelstein ein Jude war mit frommen jüdischen Eltern war der ebenso kleine Max Schulz arisch bis ins x-te Glied, wie man es später nannte. Und auch ansonsten unterschieden sich die beiden Knaben… der Itzig war blond und groß mit blauen Augen, seine Eltern sittsam und fromm. Der Vater führte einen gutgehenden Frisiersalon mit guter Kundschaft und verdiente damit sein Geld. Der kleine Max hingegen – sehen wir es so, wie es ist: sah aus, wie später die Hetzkarikaturen des „Stürmers“: Hakennase, wulstige Lippen und dunkle Behaarung, von den Froschaugen ganz zu schweigen. Seine Mutter, die Minna Schulz, war dick und stand auf dünnen Beinen. Oft lag sie auch und verdiente sich ein Zubrot mit den Herrenbesuchen, die sie empfing. So nimmt es nicht wunder, daß nicht weniger als fünf Herren infrage kämen, leibliche Erzeuger des kleinen Max zu sein.

Aufgewachsen ist Max Schulz aber bei einem anderen Mann, dem Friseur Slavitzki, dem ein so großes .. ähämmm.. nachgesagt wurde, daß man vermutete, er würde es mit einem Gummiband an seinem Bein festbinden, damit es nicht so schlackerte. Diese Tatsache ist nicht ganz unwichtig, da der Dachschaden, den man bei Max vermutete, der mütterlichen Ansicht nach davon herrührt, das der Slavitzki dem Kleinen mit seinem Ding bis ins Hirn gestoßen habe… und dann die Prügel, die gab es außerdem.. mit den Stöcken, einen für die Mutter, einen für den Stiefsohn….

Und trotz all dieser Unterschiede und der natürlichen Konkurrenz zwischen dem aus polnischen Wurzeln stammenden Friseur Slavitzki und dem Juden Finkelstein, die sich gegenseitig durchs Fenster beobachten konnten, freundeten sich der Max und der Itzig an… und Max lernte die jüdischen Gebete, die im Haus Finkelstein gesprochen wurden, er ging mit in die Synagoge und lernte die Vorschriften, die der Jude zu befolgen hatte. Sie spielten zusammen, gingen zusammen in die Schule und irgendwann begann der Max eine Ausbildung als Friseur – im Salon „Der Herr von Welt“ des Juden Finkelstein…

Unterschiedlicher hätten die Lebensumstände der beiden Jungens kaum seien können und doch… Hilsenrath läßt da gar keine Illusion aufkommen, sie sind völlig irrelevant. Auch wenn er es nicht weiß, Itzig ist qua Geburt Verlierer und mag er noch so blaue Augen haben und blondes Haar und ebenso ist Max qua Geburt auf der Gewinnerseite, trotz seiner Stürmerjudenaussehens. Weil nämlich eines Tages so etwas wie eine Erscheinung kommt nach Wieshalle, auf den Ölberg, einer wie ein Messias, der den Geknechteten und Entrechteten, die ihm andächtig zuhören, Erlösung verspricht, einen Stock verspricht, mit dem sie zurückschlagen können auf die, die sie beherrschen und unterdrücken.

Und der Führer sprach: „…. Wahrlich ich sage euch: In der Hand des wahren Meisters wird der Stock zum Schwert, auf daß die Hand herrsche bis in alles Ewigkeit. Amen. …“ Und ich sagte zu mir: Max Schulz. Höchste Zeit, daß du selber den Stock in die Hand nimmst, den gelben und den schwarzen.

Es ist keine Rede, die Hitler dort auf dem Ölberg hält, es ist eine Predigt, Hitler ist der Messias der Erniedrigten Deutschlands, er ist der Mensch mit der Vision, dem Heilsversprechen, dem die schreiende, tobende, weinende Masse zujubelt, Hitler ist der Erlöser. [1]

Max bekommt seinen Stock, seinen Prügel, einen Schiessprügel nämlich. Im Gegensatz zu seinem Vater, der nur bei der SA landen kann, tritt Max der SS bei. Als Totenkopfmann fährt er dann im Krieg mit Sonderkommandos durch Polen und andere Länder, um Juden zu liquidieren, hier ein paar, dort ein paar. Wenn die Gegend gesäubert ist, zieht das Kommando weiter. Wegen Herzproblemen wird Max Schulz, der MaSSenmörder dann in ein Vernichtungslager geschickt. Zum Vernichten. Wieviele werden es gewesen sein? Wer weiß das schon, so um die 10.000 sagt der Max Schulz irgendwann am Ende des Romans, einfach, um eine Zahl zu nennen. Und er war gut beim Morden, der Massenmörder und Oberscharführer Schulz. Er musste gut sein, weil er doch aussah wie ein Jude auszusehen hat (dem „Stürmer“ sei dank), sogar ein bischen besser musste er sein als die anderen.. dabei war es ja nicht so, daß er die Juden hasste oder irgendetwas gegen sie hatte. Auch und erst recht nicht gegen die Finkelsteins, die er in Laubwalde auch erschießen musste. Er hatte nur endlich den ersehnten Stock in seiner Hand und die Erlaubnis, den Befehl, zuzuschlagen… die empfangenen Schläge, die Vergewaltigungen, den Dreck, die Entrechtung zurückzuzahlen demjenigen, der ihm benannt worden ist von seinem Erlöser.

Es war hektisch, als die Russen immer näher kamen, der Geschützdonner schon zu hören war. Noch schnell das Lager von Überlebenden befreien und dann im LKW nach Deutschland fliehen, durch den Wald. Doch im Wald, da sind die Partisanen.. piff-paff.. alles tot mit halben Hirnschalen nur noch. Alle? Nein, zwei hingen mit bloßen Arsch über der Reling zum Scheissen: Max Schulz und Hans Müller, der Lagerkommandant. Ihre Hirnschalen blieben heile, auch der Schwanz blieb dran und die Uniform drumherum, um den Körper, den frierenden in der eisigen polnischen Kälte im Wald. Das einzige, was man retten konnte, war eine Schachtel mit Gold. Zähnen. Das Startkapital für ein neues Leben, sozusagen. Max Schulz (wo Müller ist, wissen wir nicht) irrt mit einem Sack auf den Rücken durch den Wald und kommt irgendwann halb erfroren an eine Hütte, in der die Einsiedlerin Veronja haust.

Die alte, seltsame, verhuzelte Veronja sieht einen Gott in ihrer Tür stehen. Einen abgehalfterten Gott auf der Flucht, einen Gott ohne Macht, einen ohnmächtigen Gott, einen Ex-Gott, sozusagen. Und was macht man mit einem Ex-Gott, der ein dunkler Gott war, ein tötender? Man fickt ihn! Max Schulz ist von Veronja abhängig, er kann sie nicht töten, ohne selbst verloren zu sein. Und Veronja… sie gibt ihm Drogen, Kräutersude und sie reitet ihn, ein ums andere mal, bis ihn sein Herz fast im Stich läßt, sie prügelt ihn mit ihrer Peitsche und päppelt ihn dann wieder auf, um einen neuen Ausritt zu wagen… Welch eine Szene! Der SS-Mann auf der Flucht vor der alten, runzeligen, krummbeinigen und peitschenschwingenden Kräuterhexe, die ihm buchstäblich die Seele aus dem Leib schlägt und schläft…. Letztlich aber tötet Max die Hexe doch, in einem Akt von Notwehr und er zieht mit seinem Sack und den Goldzähnen weiter gen Deutschland… oder dem was übrig geblieben ist.

Kürzen wir die Geschichte etwas ab.. Es gelingt dem Max Schulz tatsächlich mit seinen Goldzähen im Gepäck nach einem längeren Zwischenstopp bei Witwe Holle in das zerstörte Berlin zu kommen. Dort entschließt er sich zu zweierlei: zum einen versilbert er die Goldzähne (bis auf drei, die er als Andenken behält) und bekommt so daß Startkapital, um als kleiner jüdischer Schwarzhändler Karriere zu machen. Jawohl, jüdisch, denn natürlich hat er Angst davor, entdeckt zu werden bei der Jagd auf die Nazis, die jetzt einsetzt und so entschließt er sich, aus dem Schein (meint: wie ein „Stürmer“-Jude auszusehen) Sein zu machen: Max Schulz erinnert sich seiner jüdisch geprägten Kindheit und mutiert zum Juden, nicht zu irgend einem, nein, Max Schulz, der Massenmörder wird zu Itzig Finkelstein. Ein alter Kamerad, ein Arzt, schneidet ihm das ab, was er zwischen den Beinen zuviel hat und ein anderer tätowiert ihm eine Lagernummer auf den Arm, die ihn als Insasse von Auschwitz kennzeichnet [2]. Wenn schon, denn schon…

Der kleine Schwarzhändler Itzig Finkelstein macht seine Geschäfte, auch lernt er Frauen kennen, bei denen er logiert. Ihnen gegenüber verteidigt er sein Judentum, er erklärt es, erläutert es, versucht zu überzeugen. So sehr er früher SS-Mann war, so überzeugend und überzeugt ist er jetzt als Jude. Nach einigen geschäftlichen Turbulenzen entschließt sich Itzig Finkelstein, mit einem Blockadebrecher aufzubrechen, ins Land seiner Väter zu fahren, 2000 Jahre Exil zu beenden: Palästina ruft, der Staat der Juden, der dort und nirgends anders gegründet werden soll.

Es ist eine wilde Überfahrt auf einem wilden Seelenverkäufer (der „Exitus“), aber sie kommen an, durchbrechen die britische Blockade. Und Itzig lebt sich ein in Palästina, er fängt wieder an, als Friseur zu arbeiten und unterhält die Kunden mit patriotisch-zionistischen Reden. So werden die örtlichen Untergrundkämpfer auf ihn aufmerksam und da er mit Waffen umgehen kann, wird er in die Gruppe aufgenommen… Später dann, nach Gründung des Staates, wird er Soldat, der heimliche Liebling aller Militärs, ist er es doch in einem der frühen Kriege, der als Speerspitze der Armee mit seinem Jeep den Suez-Kanal erreicht (eine Szene, die von Kishon sein könnte, der Sergeant Finkelstein, der in die falsche Richtung abbiegt und am Kanal landet…).

Auf diese Weise zeigt uns Hilsenrath die Beliebigkeit der Dinge. Ausgerechnet die Fähigkeiten, die er bei den Nazis gelernt hat, bringt er hier für den Judenstaat ein: schießen, Waffenkenntnisse, militärisches Gespür. Eine unendlich schmerzvoll zu lesende Szene ist die, wie er die Kinder auf dem Schiff Vitamine spritzt und zwar so gut, daß alle nachher Freunde sind von „Chawer Itzig“ (Kamerad Itzig). Aber gelernt ist schließlich gelernt, nur daß er in Laubwalde Phenol in den Spritzen hatte, mit denen er dort -zig kleine Engel machte…..

… und so lebt Max Schulz ein ganz normales jüdisches Leben. Er findet sogar eine Frau, so dick, nein, fetter noch als seine Mutter, seine Traumfrau also, eine stumm gewordene in den Lagern, eine, die noch immer vom Hungerengel verfolgt [3] wird. Den Frisiersalon seines Chefs übernimmt er nach dessen Tod als sein fleissigster Geselle, er freut sich über die Siege der Juden gegen die Araber, auch wenn er langsam zu alt geworden ist, selbst zu kämpfen.

… und nie schöpft jemand Verdacht, er übersteht sogar die Begegnung mit entfernten Verwandten, die unerwarteter Weise noch existieren und einen blonden Itzig zu treffen erwarteten. Aber die Lager… alles verändert sich in den Lagern, selbst das Aussehen…. sogar als er in späten Jahren einem alten Bekannten vom Schiff gegenüber bekennt, er sei Max Schulz, ein Massenmörder, man glaubt ihm nicht, er inszeniert eine Gerichtsverhandlung gegen sich selbst: man hält es für ein seltsames Spiel…. erst das jüdische Herz, das ihm transplantiert werden soll, weigert sich, in seiner Brust zu schlagen.

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Manchmal bleibt einem beim Lesen schon das Lachen im Hals stecken. Man kann noch nicht einmal sagen, Max Schulz, dieser Mensch mit dem Allerweltsnamen, sei uns als besonders schlechter Mensch geschildert worden. Im Gegenteil, aus sozialer Unterschicht stammend (die Mutter prostituiert sich, der (Stief)Vater schlägt und vergewaltigt ihn) schafft er mit Hilfe seines jüdischen Freundes und dessen Familie einen gewissen Aufstieg, erwirbt Bildung und Ausbildung, mithin gute Chancen für seine Zukunft. Was also verführt ihn, zum Massenmörder zu werden? Ist es die Chance, mit einem Schlag auch sozusagen offiziell (und nicht nur durch Geburt) auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen und Macht zu bekommen, das erlittene Unrecht, die erlebten Schmerzen zurückzahlen zu können, egal wem? Erliegt er einfach der Faszination der Lichtgestalt Hitler, der ihm erlösergleich befiehlt: „Steh auf und morde!“ Sicherlich ist die Szene, in der Hitler auf dem Ölberg zu den versammelten Menschen spricht, eine Schlüsselszene für das Buch. In dieser Versammlung erscheint Hitler gleich einem Messias und er setzt ein neues Göttergeschlecht ein in Deutschland und bietet den Menschen an, diesem beizutreten und zu huldigen. Und die Masse nimmt die Worte auf in sich, in ihre innere Leere und jubelt ihm in Verzückung zu…

Max Schulz ist eine Hülle, die alle Rollen spielen kann, er hat nichts eigenes. Er ist Judenfreund bis ihm etwas anderes mehr verspricht. Er ist SS-Mann und mordet, bis die Umstände ihn zwingen, damit aufzuhören. Und schließlich schlüpft er in die Haut seiner ehemaligen Opfer, als ihm dies opportun erscheint und wird zum Juden. All diese Rollen spielte er so perfekt, daß zwischen „Sein“ und „Schein“ kein Unterschied zu sein scheint, er ist der Konvertit, der bekanntlich immer noch ein wenig besser ist….

Natürlich, in den Figuren des Itzig Finkelstein, blond und groß, arisch aussehend wie aus dem Bilderbuch und des Max Schulz, im Aussehen wie aus dem „Stürmer“ [4] entsprungen, persifliert Hilsenrath die Stereotypen „Jude“ und „Arier“, die sicherlich heute noch in vielen Köpfen herumgeistern. Die Persiflage hört nicht beim Äußeren auf, die gebildete, strebsame Familie ist die jüdische, während die deutsche soziale Unterschicht darstellt. Ähnlich übrigens überzeichnet der Autor auch andere Personen der Geschichte wie z.B. die israelischen Untergrundkämpfer. Überhaupt gibt das Buch in dieser Hinsicht einen Schnelldurchgang in israelischer Geschichte, angefangen von der illegalen Einwanderung von Juden nach Palästina, der britischen Besatzung des Gebiets über die Staatsgründung bin hin zu den Kriegen mit den arabischen Nachbarstaaten.

Die lange Geschichte des Max Schulz von seiner Geburt bis zu seinem Ende erzählt Hilsenrath in einem oft der gesprochenen Sprache angepasstem Ton. Diese relativ einfache Sprache passt natürlich gut zu seinem einfachen Max Schulz mit dem Dachschaden, den er immer dann hervorholt, wenn er ihn gerade braucht. Im zweiten Teil des Romans (der seinerseits in 6 Bücher aufgeteilt ist) wird ein großer Teil der Geschichte in imaginären Monologen des falschen Itzig an die Adresse des toten erzählt, vllt ein Zeichen dafür, daß dieser Mord dann doch nicht so ganz an Schulz vorbei gegangen ist. Ansonsten mordete Schulz mit ungefähr derselben inneren Beteiligung wie er isst oder mit Frauen schläft oder atmet: es war sein Leben. Zum Teil ist der Text derb bis hin zum obszönen, besonders im ersten Buch, in dem die Minna Schulz eine Rolle spielt, kommt viel geschlechtliches vor, meist in Gossensprache.

Was bleibt nach dem Buch? Es ist seltsam, aber ich habe keine Meinung… Der Roman ist rein aus Tätersicht geschrieben, eines Täters, der nie als solcher erkannt wird, im Gegenteil, der als Opfer gesehen und behandelt wird. Dabei wirkt Schulz in seinem Eifer so harmlos, daß man ihm, von dem man weiß, wie wenig ihm das Morden ausmachte, kaum negative Gefühle entgegenbringt, ein Zwiespalt bricht da auf. Die angedeutete Erklärung der Wirkung Hitlers auf die Massen sind interessant, aber zu eindimensional. Vllt treffen sie auf eine bestimmte soziale Schicht zu, aber so einfach kann es nicht für alle gewesen sein, ein rauschhaftes Erleben, Verzückung und dann Totschlag und Mord….

Natürlich, ein Schelmenroman, einer tut schlimmes und läuft durch die Szene, ohne daß man ihn fassen kann oder es gar weiß. Eine Satire, so wird geschrieben. Aber abgesehen davon, daß ich das Buch gerne gelesen habe, weiß ich einfach nicht, was ich davon halten soll. Nun gut, vllt ist das ja sogar ein Ziel des Buches, gewohnte Gedankengänge ins Schlingern bringen.

Links und Anmerkungen:

[1] Hilsenrath interpretiert in diesen Passagen das Auftreten Hitlers vor den Massen als religiöses Ereignis, an anderer Stelle bezeichnet er die engsten Gefolgsleute des Führers als Apostel. Das erinnert natürlich sofort an Lems Gedanken in „Provokation
[2] Wiki-Artikel zur Kennzeichnung der Häftlinge in Konzentrationslagen
[3] Herta Müller: Atemschaukel
[4] Wiki-Artikel zum „Stürmer

Edgar Hilsenrath
Der Nazi & der Friseur
dtv, 2006, 480 S.

[Gastrezension] Elisabeth Zöller / Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens

Elisabeth Zöller: Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens ©Fischer VerlageYvonne wollte gerne Bekanntschaft mit Anton machen und so hat sie sich nach meinem Beitrag zum 27. Januar, in dem Bücher zum Thema Nationalsozialismus ein Zuhause suchten, bei mir gemeldet. Anton ist inzwischen wohlbehalten bei ihr angekommen und hier folgt nun ihr Leseeindruck. Herzlichen Dank, liebe Yvonne!

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Das Buch erzählt die Geschichte von Anton. Anton ist ein sehr liebenswerter Junge, der mir sofort ans Herz gewachsen ist.
Er ist unglaublich gut in Mathematik, aber leider hilft ihm das in der Zeit, in der er aufgewachsen ist nicht viel – es ist die Zeit des Nationalsozialismus.
Anton ist durch einen Unfall behindert. Er stottert, kann seinen rechten Arm nicht richtig bewegen und spricht von sich selbst in der dritten Person.
Trotz seiner Einschränkungen ist Anton ein sehr aufgewecktes Kind mit vielen Fragen und Gedanken.

Das Buch ist ein Jugendbuch und in einer sehr flüssigen Sprache geschrieben, sodass es sich gut lesen lässt.
Ich bin sofort in die Geschichte eingetaucht und habe im Kopf neben Anton auf dem Schulhof gestanden und die Gemeinheiten der anderen Kinder ertragen. Das fand ich auch eigentlich das Schlimmste. Sicherlich hat der mit einer normalen Allgemeinbildung versehene Mensch von heute eine Vorstellung davon, wie schlimm die im Dritten Reich verübten Gräueltaten waren. Aber so hautnah aus der Sicht eines Kindes zu lesen, wie sehr auch die ganz kleinen Kinder schon von der Ideologie geprägt waren und wie grausam sich erwachsene Menschen gegenüber Kindern verhalten haben, hat mich doch sehr mitgenommen.

Etwas schade fand ich, dass man so wenig darüber erfährt, wie die anderen Kinder der Familie damit umgegangen sind ,einen behinderten Bruder zu haben.
Ich denke mal, dass auch sie wahrscheinlich deswegen Anfeindungen  ausgesetzt waren.
Darüber hätte ich, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Antons Schwester Marie noch lebt und direkt hätte erzählen können, doch gerne mehr erfahren.

Beim Lesen dieses Buches macht man sich deutlich, dass es niemals wieder so weit kommen darf und wir alle dafür einstehen müssen.
Sehr berührt hat mich folgender Dialog von Seite 27:

Marie seufzt. Kleine Brüder konnten einem fast die Seele aus dem Leib fragen. Und Anton erst recht.
Da erklärte Mama: „Wer fragt, lebt.“
„Und wenn er mal nicht mehr fragt?“, fragte Marie.
„Dann ist er tot“, sagte Mama.
Nach einer Weile sagte Anton: „Jetzt weiß Anton, warum Gott nicht alle Fragen beantwortet.“
„Und warum?“, fragten Marie und Mama.
„Weil er will, dass die Menschen leben.“

Mein Fazit: Lesenswert! Aufrüttelnd!

Autorin: Elisabeth Zöller
Titel: Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens
Taschenbuch: 223 Seiten
Verlag: Fischer
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3596805167

Roma Ligocka / Die Handschrift meines Vaters

Jeder, der den Film „Schindlers Liste“ gesehen hat, wird sich an das kleine Mädchen im roten Mantel erinnern.
Roma Ligocka war dieses kleine Mädchen; sie besaß einen roten Mantel, sie irrte bei der Räumung des Krakauer Gettos durch die Straßen.
Als sie gemeinsam mit anderen Holocaust-Überlebenden bei der Premiere den Film „Schindlers Liste“ sieht, erkennt sie sich wieder und beginnt, ihre traumatischen Kindheitserlebnisse aufzuarbeiten. Dies tut sie zunächst in dem wunderbar geschriebenen und sehr berührenden Buch „Das Mädchen in dem roten Mantel“ (Rezension von Ada Mitsou), doch damit ist die Vergangenheitsbewältigung noch nicht vollendet, denn die Bekanntheit, die ihr nun zuteil wird, birgt auch Schattenseiten.

Erst ein seltsamer Anruf, dann ein Brief.

„Es gibt Briefumschläge, die signalisieren: Es ist nichts Gutes darin. Man mag sie gar nicht öffnen.
[…]
Jahrelang habe ich mich gefragt, was ich tun werde, wenn jemand diese alte Geschichte herausholen sollte. Die Wahrheit ist: Ich habe es bis jetzt nicht geschafft, mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Selbst mit mir selber nicht. Möglicherweise habe ich das Unglück meiner Familie mein Leben lang mit mir herumgetragen – seitdem ich sieben Jahre alt war.“

Roma öffnet den Brief, er bezieht sich auf den Anruf, anbei ein Zeitungsartikel mit Fotos ihrer Eltern und einem Text, der sie wie ein Keulenhieb trifft:

„Der Vater der Bestsellerautorin Roma Ligocka, deren Buch über eine Kindheit im Holocaust in der Welt bekannt geworden ist, soll ein Kapo im Lager gewesen sein. Angeblich hat er Menschen geschlagen und in den Tod geschickt. Nach dem Krieg ist er verhaftet worden und starb kurze Zeit später im Gefängnis.“

Roma macht sich auf die Suche nach der Wahrheit.
War ihr Vater wirklich ein grausamer Kapo? Obwohl doch Menschen, die mit ihm im Lager waren, etwas ganz anderes berichten?

In „Die Handschrift meines Vaters“ geht es nicht nur um die Spurensuche an sich, sondern vor allem um das Gefühlsleben von Roma Ligocka, dass sie wunderbar zu Papier zu bringen versteht. Es handelt sich nicht um eine stringente Erzählung, nicht um einen schieren Bericht, viele Passagen sind eher tagebuchartig, psychologisch angehaucht, sehr emotional und stark auf das Umfeld, das Drumherum während der Spurensuche, konzentriert.
Mir gefällt genau dieser Aspekt, mir gefällt die Art, wie hier ein schweres Trauma aufgearbeitet wird und mir gefällt, wie die Autorin schreibt.
Manches hätte vielleicht etwas anders angeordnet sein können, manche Abschnitte wären vielleicht nicht nötig gewesen, aber alles in allem halte ich das Buch für sehr lesens- und empfehlenswert.

Leseprobe: „Die Handschrift meines Vaters“.

Autorin: Roma Ligocka
Titel: Die Handschrift meines Vaters
Broschiert: 335 Seiten
Verlag: Diana
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3453351615

José-Alain Fralon / Der Gerechte von Bordeaux. Wie Aristides de Sousa Mendes 30.000 Menschen vor dem Holocaust bewahrte.

Die meisten Menschen haben schon einmal von Oskar Schindler gehört, der während des Zweiten Weltkriegs rund 1200 jüdische Zwangsarbeiter vor den nationalsozialistischen Vernichtungslagern bewahrt und ihnen so das Leben gerettet hat. Schindler tat dies jedoch nicht ganz uneigennützig, zumindest anfänglich waren finanzielle Interessen im Spiel.
Doch es ging auch anders, es gab auch Menschen, die völlig ohne Eigennutz halfen.
Einer von ihnen war Aristides de Sousa Mendes.
Er rettete rund 30.000 Menschen, darunter etwa 10.000 Juden, und dennoch ist sein Name bis zum heutigen Tag nur wenigen Menschen außerhalb Portugals ein Begriff.

Das vorliegende Buch befasst sich eingehend mit dem Leben und Wirken von Aristides de Sousa Mendes, angefangen bei seiner Kindheit bis weit über seinen Tod hinaus. Detailliert und in angenehm sachlichem Ton schildert der Autor nicht nur das Leben und die äußeren Umstände von Aristides, sondern auch das seiner Familie und macht es so möglich, sich ein Bild von dem Mann zu machen, der so viel Gutes tat, den die Geschichte jedoch viel zu lange in Vergessenheit ruhen ließ.

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An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass der folgende Text auf Leben und Wirken von Aristides de Sousa Mendes Bezug nehmen wird, wie es auch im Buch geschildert ist.
Wer also nichts über den Inhalt des Buches und die Biographie Aristides de Sousa Mendes‘ erfahren möchte, bricht die Lektüre bitte jetzt ab.

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Aristides de Sousa Mendes, geboren 1885, war 1940 portugiesischer Generalkonsul in Bordeaux.
Flüchtlingsströme aus Deutschland, den besetzten Teilen Frankreichs und des restlichen Europas strömen zu dieser Zeit gen Süden, um über die noch nicht besetzten französischen Teile und via Spanien nach Portugal zu gelangen, von wo aus man sich die Flucht weg vom europäischen Kontinent erhofft.
Doch nach Spanien gelangt nur der, der ein Visum hat …

Der portugiesische Diktator António de Oliveira Salazar, von de Sousa Mendes gerne auch als „der portugiesische Stalin“ bezeichnet, hatte ein Jahr zuvor im Rundbrief „Circular 14“ erlassen, dass für „Ausländer, deren Nationalität unbekannt, verworfen oder rechtsstreitig ist; Staatenlose; Juden, die aus ihrem Herkunftsland oder wo sie untergekommen waren, vertrieben wurden…“ keine Visa auszustellen seien.
Aristides de Sousa Mendes stürzt dieses Rundschreiben in einen schweren Gewissenskonflikt und in eine schlimme seelische Verfassung. Er sieht täglich die Flüchtlingsströme, er erkennt, was mit ihnen geschehen wird, wenn niemand hilft. Besonders die wachsende Freundschaft mit Rabbi Chaim Krüger lässt ihn mehr und mehr erkennen, was falsch und was richtig ist.
Am 16. Juni, nach drei Tagen Isolation und innerer Einkehr, steht Aristides auf, rasiert sich, kleidet sich an und beginnt, was der Historiker Yehuda Bauer später als „die größte Rettungsaktion, die während des Holocaust von einem einzelnen Menschen durchgeführt wurde“ bezeichnen wird.

„Von nun an werde ich allen ein Visum geben, es gibt keine Nationalitäten, Rassen, Religionen mehr. […] Ich kann nicht zulassen, dass alle diese Menschen umkommen. Viele von ihnen sind Juden, und in unserer Verfassung steht eindeutig, dass Ausländern weder aufgrund ihrer Religion noch ihrer politischen Überzeugung der Aufenthalt in Portugal verweigert werden darf.
Ich habe beschlossen, diesem Prinzip treu zu sein, werde aber nicht zurücktreten. Ich kann dem christlichen Glauben, dem ich angehöre, nur treu bleiben, wenn ich so handle und der Stimme meines Gewissens folge.“

Visum um Visum wird ausgestellt, wie am Fließband wird gestempelt und unterschrieben. Die Nachricht, dass jedermann ein Visum erhalten kann, verbreitet sich wie ein Lauffeuer, immer mehr und mehr Flüchtlinge stürmen die Kanzlei, darunter auch die Familie de Rothschild und Otto von Habsburg, der freilich nicht selbst erscheint, sondern einen Sekretär schickt. Nicht einmal Gebühren erhebt de Sousa Mendes mehr, es muss schnell gehen, Zeit darf nicht verplempert werden, schließlich verstößt er gegen das Gesetz Salazars.
Und dieser erfährt auch bald davon, bereits am 20. Juni fordert die Regierung den Konsul auf, seine Aktivitäten einzustellen, am 23. Juni reist de Sousa Mendes in die Heimat, nicht jedoch, ohne auf dem Weg noch weitere Visa auszustellen und einige Flüchtlinge persönlich über die Grenze zu begleiten.

Am 24. Juni erklärt Salazar sämtliche durch den inzwischen entlassenen Konsul ausgestellte Visa für nichtig, mehr noch, er fordert seine Botschafter auf, in Zukunft nur noch den „reinen Menschen“, also den Nichtjuden, Visa auszustellen.
In Portugal wird Aristides nicht nur seines Amtes enthoben, er wird auch in einem Disziplinarverfahren für schuldig erklärt, sämtliche Gelder, die Pension, sogar seine Lizenz als Rechtsanwalt werden gestrichen. Schlimmer ist jedoch die gesellschaftliche Ächtung, der er und seine gesamte Familie in Zukunft ausgesetzt sein werden; diesbezüglich leistet Salazar ganze Arbeit: Aristides de Sousa Mendes ist nun ein Niemand.

Die ehemals wohlhabende Familie verarmt, ist zeitweise sogar auf die Unterstützung durch die Jüdische Gemeinde angewiesen. Gesundheitlich geht es ebenso mit Aristides bergab.
1954 verstirbt er, ohne rehabilitiert zu sein.

Um die Anerkennung der Taten de Sousa Mendes‘ und um seine politische Rehabilitierung müssen seine Nachkommen und Unterstützer lange kämpfen.

Yad Vashem in Jerusalem wird aufmerksam gemacht. Yad Vashem ist die „Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust“, auch die größte Gedenkstätte zur Erinnerung und Dokumentation der Taten nichtjüdischer Personen. Die Verantwortlichen der Gedenkstätte werden mit der Untersuchung des Falles Aristides de Sousa Mendes beauftragt.
1961 wird zu Ehren von Aristides ein Baum in der „Allee der Gerechten unter den Völkern“ gepflanzt – de Sousa Mendes ist bis heute der einzige Portugiese, der in der Allee vertreten ist.
1966 lässt Yad Vashem sogar eine Gedenkmedaille prägen, die Aufschrift lautet: „Für Aristides de Sousa Mendes, das dankbare jüdische Volk“. Auf der Rückseite steht: „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die Menschheit“.

Verschiedene amerikanische Zeitschriften berichten über de Sousa Mendes, dies nicht zuletzt, weil die nach Amerika ausgewanderten Familienmitglieder nicht davon ablassen, Aristides rehabilitieren lassen zu wollen. Große Unterstützung erhalten sie von den Kindern Rabbi Krügers und dem portugiesischstämmigen Politiker John Paul, der 1986 eine Petition zur Rehabilitierung von Sousa Mendes initiiert, diese in der New York Times veröffentlicht und an die portugiesische Regierung schickt. 1987 nimmt das amerikanische Abgeordnetenhaus eine Resolution an,  Mitinitiator ist Ted Kennedy.
Auch Otto von Habsburg setzt sich ein und bedankt sich bei den Nachfahren seines Retters:

„Ich möchte Ihnen noch einmal schriftlich mitteilen, dass ich Ihrem Großvater auf ewig dankbar sein werde. Er war ein großer Gentleman, ein Mann von bewundernswertem Mut und Integrität, der seinen Grundsätzen treu blieb, ohne dabei an seine persönlichen Interessen zu denken.
In einer Zeit, in der viele Menschen feige waren, war er ein wirklicher Held des Abendlandes.“

Am 13. März 1988, über 30 Jahre nach dem Tod de Sousa Mendes und fast 50 Jahre nach seinem Einsatz für die Flüchtlinge, wird er durch das Parlament in Lissabon offiziell rehabilitiert.

Die Gesten der Anerkennung mehren sich seitdem. So ist in der Negev-Wüste ein Wald mit etwa 10.000 Bäumen -in Anlehnung an die Zahl der durch de Sousa Mendes geretteten Juden- nach ihm benannt, Straßen und Plätze in Portugal, aber auch in Österreich oder Kanada tragen seinen Namen und seit 2008 initiiert der Verein Vision und Verantwortung e.V. eine Ausstellung.

Vor zwei Jahren erschien unter dem Titel „Désobéir“ (engl: The consul of Bordeaux) ein Film über Leben und Handeln von Aristides de Sousa Mendes. José-Alain Fralon, Autor der Biographie, war als Drehbuchautor maßgeblich an der Entstehung des Films beteiligt.

Eine Leseprobe des Buches findet sich auf der Verlagsseite.

Gebundene Ausgabe: 205 Seiten
Verlag: Urachhaus; Auflage: 1 (13. April 2011)
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3825177683

Herzlichen Dank an BloggDeinBuch.

Hans Fallada / Jeder stirbt für sich allein

Um ausnahmsweise mal das Fazit vorweg zu nehmen: Dieses Buch ist ein Erlebnis. Ich habe die gekürzte Fassung bereits als Jugendliche gelesen und fand sie damals sehr beeindruckend, doch diese nun erstmals vollständige Fassung setzt die Messlatte noch einmal höher. Das Buch ist nicht nur beispielhaft, um den „Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Kleinen“ vor Augen zu führen, es gibt auch einen Eindruck davon, wie in unmittelbarer Nachkriegszeit mit dem Thema umgegangen wurde.

Unbedingte Leseempfehlung!

Achtung:
Folgende Besprechung enthält Aussagen, die auf die Handlung und den Ausgang des Buches hinweisen.
Ich spoiler sehr ungern, in diesem Fall lässt es sich zum Zweck einer eingehenden Besprechung allerdings nicht vermeiden.
Wer das Buch also noch lesen und NICHT wissen möchte, wie es endet, der liest bitte nicht weiter!

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Gern sagt man, jeder Einzelne könne durch sein Handeln etwas bewirken.
Ohne diese Vorstellung wäre das Leben doch recht trostlos, denn wer würde sich noch für eine Sache engagieren, wenn er davon ausgehen müsste, dass er nicht dazu beitragen kann, etwas zu verändern? Wir brauchen das Gefühl, etwas bewirken zu können und die Welt wenigstens im kleinen Rahmen mit zu gestalten. Und weil wir überzeugt sind, dass das Handeln jedes Einzelnen etwas bewirken kann, stellen wir uns gerne mit einer gewissen Arroganz hin und strafen jene, die nichts tun, die sich einfach in ihr Schicksal fügen, mit Überheblichkeit, manchmal sogar mit Verachtung.

„Warum habt ihr nichts getan?“, war eine beliebte Frage der Nachkriegsgeneration an Eltern und Großeltern. Noch heute zeigen viele Menschen nur Unverständnis dafür, dass sich die Mehrheit der Deutschen nicht gegen den Nationalsozialismus aufgelehnt hat; dass sie es einfach geschehen ließen.
Aber vielleicht gab es doch viele Menschen, die sich aufgelehnt haben, die gesagt haben „Ich nehme das so nicht hin!“. Im Kleinen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die keine solche Bekanntheit erlangten wie die Scholls oder von Stauffenberg. Deren Aktionen praktisch lautlos ins Leere liefen.

Hans Fallada hält in „Jeder stirbt für sich allein“ den Spiegel vor.
Das wirklich Schockierende daran: Die Geschichte basiert zu Teilen auf einer wahren Begebenheit.

Das Ehepaar Anna und Otto Quangel ist ein durchschnittliches deutsches Paar, die klassischen „kleinen Leute“ aus dem Arbeitermilieu. Am Tag der Kapitulation Frankreichs erhalten sie die Nachricht, dass ihr einziger Sohn im Kampf gefallen ist. Während das nationalsozialistisch gesinnte Deutschland feiert, bricht für die Quangels die Welt zusammen. Nach einem zornigen Ausbruch Annas reift in Otto der Entschluss: Er macht nicht mehr einfach wortlos mit, er lehnt sich auf, gegen diesen Führer, der Söhne in den Tod und Mütter in die Verzweiflung treibt!
Er entwickelt einen Plan. Postkarten will er schreiben, auf ihnen soll die Wahrheit stehen über diesen Führer und über sein Regime. Ablegen will er sie dann in gut besuchten Häusern, wo sie von anderen Menschen gefunden und gelesen werden. In Quangels Vorstellung werden die Karten nicht nur gelesen, sie werden weitergereicht, diskutiert, sie sollen das Denken der Menschen verändern.
Notgedrungen muss er Anna in seinen Plan einweihen und die will ihren Mann unterstützen. Die Quangels, die ohnehin ein sehr abgeschiedenes Leben ohne soziale Kontakte pflegen, schotten sich noch mehr ab und schaffen es, aus Arbeiterfront und Frauenschaft ausgeschlossen zu werden, ohne den Verdacht des Verrats auf sich zu ziehen. Sonntag für Sonntag schreibt Handwerker Quangel seine Karten, in anonymer Druckschrift, mühsam, langsam, eine, höchstens zwei schafft er pro Tag. Anna sitzt daneben, macht Handarbeiten, hilft Otto, die richtigen Worte zu finden. Montags ziehen sie los, suchen die richtigen Häuser – nicht zu nah, sie wollen ja nicht den Verdacht auf sich ziehen, aber auch nicht zu weit entfernt, schließlich muss Otto pünktlich zur Schicht in die Fabrik. Welch Ironie, dass ausgerechnet diese Sorgfalt auf ihre Spur führen soll.
Was die Quangels nicht einkalkulieren: Niemand will die Karten. Niemand will sie lesen, niemand will sie weitergeben; sie erzeugen bei denen, die sie finden, nur Angst. Fast alle werden sie bei der Gestapo abgegeben, wo Kommissar Escherisch langsam die Schlinge zuzieht …

Während die Quangels den sprichwörtlichen kleinen Mann versinnbildlichen, hat Fallada aber auch an alle weiteren Prototypen der Gesellschaft gedacht und sie in sein Buch integriert. Fast alle leben sie im selben Haus wie die Quangels.
Da sind die Persickes: die Söhne bei der SS, der Jüngste -Baldur- sogar auf einer nationalsozialistischen Eliteschule, der Vater schwerer Alkoholiker, allesamt treue Nationalsozialisten, die nicht davor zurückschrecken, zu ihren Gunsten andere in die Pfanne zu hauen.
Der alte Kammergerichtsrat Fromm, der zurückgezogen lebt, selbst den Persickes Respekt einflößt und der das Richtige tun will und im Rahmen seiner Möglichkeiten auch tut.
Emil Barkhausen, ein arbeitsscheuer, kleinkrimineller Hallodri aus dem Hinterhof, dessen unzählige Kinder vielleicht, vielleicht aber auch nicht von ihm sind und dessen Frau regelmäßig fremde Männer im ehelichen Bett beherbergt.
Die Jüdin Frau Rosenthal, deren Mann deportiert wurde und die in Angst und Panik lebt und der Willkür der Persickes ausgesetzt ist, bis die Tragödie ihren Lauf nimmt.
Oder auch Trudel Baumann, die Verlobte des gefallenen Ottochen Quangels, die zunächst mit dem Kommunismus sympathisiert, dann jedoch ein ruhiges, abgeschiedenes Leben vorzieht, nur um schließlich doch im Keller der Gestapo zu landen.

Viele Figuren, die oft unnahbar wirken und deren Charakterisierung wie angerissen scheint, doch genau dieses manchmal Unkonkrete macht ihre Authentizität aus.

Die Sprache es Romans ist einfach, prägnant, wirkt manchmal rau und derbe.

In knapp vier Wochen soll Hans Fallada die Geschichte rund um die Quangels wie im Rausch niedergeschrieben haben. Nicht nur im übertragenen Sinne „wie im Rausch“ – Fallada war schwer morphiumabhängig, alkohol-, nikotin-, kokain- und schlafmittelsüchtig.
Der Dichter und spätere Kulturminister der DDR, Johannes R. Becher, war an der Entstehung des Buches maßgeblich beteiligt. Becher war auch Präsident und Mitbegründer des Kulturbundes, in dessen Besitz sich zahlreiche Prozessakten von exekutierten Widerstandskämpfern befanden. Heinz Willmann, späteres Gründungsmitglied des Aufbau-Verlags und Generalsekretär des Kulturbundes, brachte Fallada die Prozessakten des Ehepaars Otto und Elise Hampel, welches Widerstand gegen das NS-Regime geübt hatte, indem es regimekritische Postkarten und Briefe verbreitet hatte.
Zunächst lehnte Fallada die literarische Verarbeitung ab: „Er selbst habe sich im großen Strom mittreiben lassen und wolle nicht besser erscheinen, als er gewesen war.“ [„Jeder stirbt für sich allein“, Aufbau Verlag, Berlin 2011, Nachwort S. 689, nach: Heinz Willmann: „Steine klopft man mit dem Kopf“, Berlin 1977, S. 294f.]

Doch schließlich gewann Falladas Interesse die Oberhand, er begründete das in einem Essay folgendermaßen:

„Diese beiden Eheleute […] zwei bedeutungslose Einzelwesen im Norden Berlins, […] nehmen eines Tages im Jahr 1940 den Kampf auf gegen die ungeheure Maschinerie des Nazistaates, und das Groteske geschieht: der Elefant fühlt sich von der Maus bedroht.“

Gedenktafel Otto und Elise Hampel, , Amsterdamer Straße 10, Berlin-Wedding

©OTFW, Berlin / WikiCommons, GNU-Lizenz für freie Dokumentation

Die nun im Aufbau Verlag erschienene Ausgabe basiert auf dem Typoskript der Erstausgabe und zeigt den Roman erstmals in ungekürzter Originalfassung.
Die zuvor veröffentlichten Fassungen basierten auf der von Paul Wiegler lektorierten Fassung, die zahlreiche Streichungen enthielt. So fehlte bisher u.a. das 17. Kapitel und zahlreiche Stellen des Textes waren aus politischen und ideologischen Gründen gestrichen worden.
Diese Ausgabe enthält im Umschlag einen Stadtplan, was besonders für die, die Berlin nicht so gut kennen, sehr hilfreich sein kann, den Überblick über die Örtlichkeiten zu wahren.
Dazu kommt ein Anhang mit Glossar, biographischen Daten Falladas, Bildern und Nachwort.
Insbesondere die Bilder der Hampels und die Kopien aus deren Akten lassen die Geschichte noch lebendiger wirken, machen es noch unmöglicher, das Buch als „nur eine Geschichte“ abzutun.

Die Quangels/ Hampels haben anscheinend wie Don Quijote gegen die Windmühlen gekämpft und verloren. Doch heute, fast 70 Jahre später, erinnert man sich an sie; nicht nur in Berlin, sondern dank der Neuauflage des Aufbau Verlags und zahlreicher Übersetzungen sogar weltweit – die Hampels haben es geschafft, dank Hans Fallada zum Bestseller zu werden. Sie sind zu einem Inbegriff von Zivilcourage geworden und ihr Beispiel zeigt uns, dass wir sehr vorsichtig mit dem Vorwurf der Kollektivschuld umgehen sollten.

Titel: Jeder stirbt für sich allein
Autor: Hans Fallada
Gebundene Ausgabe: 704 Seiten
Verlag: Aufbau Verlag; Auflage: 8 (28. Februar 2011)
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3351033491

Denis Avey und Rob Broomby/ Der Mann, der ins KZ einbrach

Ich bin fremdgegangen. Sozusagen ;-).
Die liebe Dorota, auch bekannt als Bibliophilin, hat mich gefragt, ob ich Interesse daran hätte, für sie das Buch „Der Mann, der ins KZ einbrach“ zu rezensieren.
Klar, hatte ich!
Die Rezension ist nun auf ihrem Blog erschienen und netterweise darf ich sie auch hier noch einmal veröffentlichen.
Die Auseinandersetzung mit dem Buch war überaus interessant, darum an dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank an dich, Dorota!

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Als Historikerin mit Arbeitsschwerpunkt Nationalsozialismus lese ich viele Bücher zu dem Thema und selbstverständlich auch solche, die nicht unbedingt als Fachliteratur oder als authentische Biographie anzusehen sind. Dabei bleibt allerdings immer ein Funken Skepsis im Hinterkopf aktiviert; man muss wachsam bleiben, darf nicht alles glauben, was einem präsentiert wird, insbesondere dann nicht, wenn es weder belegende Quellen noch Zeugen für das geschilderte Geschehen gibt.
Dieses Buch hat mich in dieser Herangehensart bestätigt.

Denis Avey, geboren 1918 und aus einer wohlhabenden Familie stammend, meldete sich im Zweiten Weltkrieg als Freiwilliger zum Militärdienst und wurde während des Afrika-Feldzugs eingesetzt.
Die Details des Feldzugs sind schier unglaublich und erstrecken sich über die ersten etwas mehr als 100 Seiten des Buchs. Da werden Personen akribisch beschrieben, Fahrzeuge, Gefechtstellungen, das Wetter, Gedankengänge. Zahlreiche Details in Hülle und Fülle, über die man sich in einem Roman nicht wundern würde – aber in einem autobiographischen Werk, das Erlebnisse von vor über 60 Jahren schildert, kommt man angesichts dieser Akribie um das Wundern doch nicht herum. Aber nun gut, vielleicht hat Mr. Avey trotz seiner über 90 Lebensjahre ein unglaubliches Gedächtnis, wer weiß das schon.
Der junge Avey gerät in ein Gefecht, wird verletzt und gefangen genommen und gerät nun auf Umwegen in das Kriegsgefangenenlager E715, das unmittelbar neben dem Konzentrationslager Monowitz (Monowice) liegt, auch bekannt als Auschwitz III. Das Leben im Lager ist nicht leicht, doch nicht mit dem Elend zu vergleichen, dass Avey nebenan, im KZ, erahnt. Er sieht die jüdischen Gefangenen, abgemagert und ausgemergelt. Sie müssen gemeinsam mit den Kriegsgefangenen für die IG Farben arbeiten. Und er lernt den holländischen Juden Hans kennen.
Avey will sich selbst ein genaues Bild vom Leben der Juden in Auschwitz machen und so beschließt er, mit Hans für eine Nacht die Rollen zu tauschen, als Gegenleistung bekommt der Holländer Zigaretten, eine beliebte Währung, mit der sich auch der Kapo bestechen lässt. Lange bereitet Avey sich auf den Austausch vor, rasiert sich die Haare, wird noch dünner. Sie wechseln die Kleidung und so wird aus Avey der Jude Hans. Zum Glück geht alles gut, der Rücktausch klappt, angeblich tauschen er und Hans noch ein weiteres Mal die Rollen. Avey ist über das Erfahrene schockiert und tut nun alles in seiner Macht stehende, um Hans und anderen das Leben ein wenig zu erleichtern. Wie sich das für einen  (angeblichen) Helden eben gehört. „Erzähl ihnen von uns!“, geben ihm die Gefangenen mit auf den Weg.
Doch angeblich will nach Ende des Kriegs niemand die Geschichten vom Elend der Juden hören. Und so schweigt Avey. Schweigt über 60 Jahre lang, bis ihn zufällig der Journalist Rob Broomby ausfindig macht, einen Film über ihn dreht und mit ihm zusammen ein Buch über seine Erinnerungen schreibt.

Der Leser bleibt zurück mit Zweifeln.
Avey war Kriegsgefangener in E715, das zumindest ist zweifelsfrei wahr.
Doch war so ein Personentausch überhaupt denkbar?
Die noch lebenden Zeitzeugen aus beiden Lagern sagen übereinstimmend „nein“.
Und doch will Avey es geschafft haben. Und dann schweigt er so lange? Obwohl ihm doch die Worte der Juden und die Bitte, an sie zu erinnern, so auf der Seele lasten? Und vor allem: Wem hat es genützt? Wem hat diese waghalsige, riskante Aktion genützt, warum sollte jemand so etwas getan haben?
Fragen über Fragen, Zweifel an Zweifel.

Der Jüdische Weltkongress hat ebenfalls Zweifel am Wahrheitsgehalt des Buches, den Verlag zu einer Prüfung der Echtheit der Geschichte aufgefordert und fürchtet eine „Trivialisierung des Holocaust“:
„We are deeply concerned about the charges that a significant part of Mr. Avey’s story, i.e. that he supposedly smuggled himself into the Auschwitz-Buna concentration camp, may be exaggerated if not largely fabricated. If this book turns out to be the latest in a succession of false or partly fictionalized Holocaust tales, following on such hoaxes as Binjamin Wilkomirski’s ‘Fragments: Memories of a Wartime Childhood’ and Herman Rosenblat’s ‘Angel at the Fence’, its publication could be a boon to Holocaust deniers and others who seek to trivialize or disparage the cataclysmic murder of more than 6,000,000 European Jews during World War I.“

Die Gedenkstätte Yad Vashem denkt nicht im Traum daran, Avey auszuzeichnen und lehnt eine Ehrung in der „Allee der Gerechten“  ab, solange nicht eindeutige Beweise für die Echtheit der Geschichte vorliegen (auch wenn Co-Autor Broomby das Gegenteil noch so oft medial verbreitet – was sagt allein das schon über die Glaubwürdigkeit eines unter seiner Mitarbeit entstandenen Buches aus?).
Piotr Setkiewicz vom Museum Auschwitz bezweifelt ebenfalls die Glaubwürdigkeit der Geschichte. Die britischen Kriegsgefangenen seien zu eindeutig zu erkennen gewesen, selbst wenn sie mit den jüdischen Gefangenen die Kleidung gewechselt hätten. Kaum einer von ihnen sprach Deutsch und die Kapos hätten regelmäßig ihre Gruppen durchgezählt. Dazu die allgegenwärtige SS. Das Risiko, so Setkiewicz, sei einfach zu groß gewesen. Er geht vielmehr davon aus, dass Avey während der Gefangenschaft im Lager E715 Geschichten über Auschwitz gehört und unter anderem daraus seine eigene Geschichte zusammengesetzt hat.

All diese Zweifel fasst die FAZ in einem überaus kritischen Beitrag zusammen: http://www.faz.net/artikel/C30870/umstrittenes-buch-schoa-zum-anfassen-30337614.html

Sicherlich waren allein der Kriegseinsatz und die Gefangenschaft traumatische Erlebnisse. Eine wahrheitsgemäße Schilderung dieser (belegbaren!) Geschehen wären in meinen Augen ausreichend gewesen, um ein Buch zu schreiben. Doch offenbar reicht die Wahrheit allein nicht aus, schon gar nicht, wenn ein ehrgeiziger Journalist mit im Spiel ist.

Unwahrheit im Zusammenhang mit solchen Berichten ist jedoch ein Schlag ins Gesicht all jener, die Opfer des Holocausts geworden sind und ebenso all jener, die an der wahrheitsgemäßen Aufarbeitung des Holocausts und des Nationalsozialismus arbeiten.
Unwahrheit ist, wie es der Jüdische Weltkongress zurecht befürchtet, der Wegbereiter der Trivialisierung eines unmenschlichen, kaum vorstellbaren, grausamen Geschehens, dessen Gedenken es zu bewahren gilt, damit es sich nicht wiederholt.

Vereinzelt findet man eine gute Bewertung dieses Buches, doch vermisse ich dort jegliche kritische Auseinandersetzung mit dem Text. Die Rezensenten haben das Buch wie einen Roman behandelt; es geht ans Herz, also muss es gut sein und was ans Herz geht, kann ja auch nicht gelogen sein … doch, kann es. Ob es in diesem Fall so ist, sei mal dahingestellt, man wird es wohl nie wirklich erfahren, aber gesunde Skepsis im Umgang mit Büchern wie diesem sei wirklich jedem am Thema Interessierten ans Herz gelegt.

27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Der 27. Januar ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.

„Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“
[Roman Herzog]

Immer häufiger hört man „Das ist doch alles Vergangenheit, ich will davon nichts mehr hören“, und parallel nimmt die Zahl derer, die den Nationalsozialismus für „doch gar nicht so falsch“ halten zu, parallel erhalten rechts gesinnte Parteien mehr Zuspruch und immer weniger fundiertes Wissen findet den Weg in die Köpfe der Menschen.

Erinnern ist wichtig!

Erinnern bedeutet nicht, den moralischen Zeigefinger zu schwingen, sondern es bedeutet, derer zu gedenken, die ihr Leben lassen mussten und derer, deren Leben nachhaltig beeinflusst und zerstört wurde. Erinnern an eine Zeit, in der schon eine „falsche Abstammung“ (man beachte hierbei bitte die Anführungszeichen), eine psychische Störung, eine geistige oder körperliche Behinderung oder eine von der herrschenden Mehrheit abweichende Weltanschauung ausreichten, um als „lebensunwert“ abgestempelt zu werden.

Erinnern bedeutet, nicht zu vergessen.

Anlässlich des 27. Januars möchte ich euch heute fünf Bücher vorstellen, die dabei helfen, nicht zu vergessen.

Eugen Kogon: Der SS-Staat

Eugen Kogon (1903-1987), Autor dieses Buches, gilt als einer der „intellektuellen Gründerväter der Bundesrepublik Deutschland“.
Er war Publizist, Soziologe und Politikwissenschaftler, Sohn eines jüdisch-russischen Diplomaten und Katholik.
Kogon war schon früh ein Gegner des Nationalsozialismus, wurde erstmals 1936 von der Gestapo verhaftet und schließlich 1939 in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen überlebte Kogon das Konzentrationslager und begann direkt nach Kriegsende damit, das Buch „Der SS-Staat“ zu verfassen, welches 1946 erstmals veröffentlicht wurde. Seitdem ist es in zahlreichen Auflagen erschienen, wurde häufig aktualisiert und gilt als eines der Standardwerke über die Verbrechen des Nationalsozialismus.

Das Buch analysiert den Aufbau und den beabsichtigten Zweck der Konzentrationslager, berichtet vom Alltag in den Lagern, vom Miteinander und auch von Konflikten der Häftlinge, vom Überlebenskampf und den Verbrechen vonseiten der Nationalsozialisten.
Obwohl Kogon als ehemaliger Häftling aus erster Hand berichtet, ist sein Schreibstil sehr sachlich.
Er dokumentiert und verzichtet dabei auf plakative oder emotionsüberladene Sprache, ebenso auf pauschale Schuldzuweisungen. Genau dieser Stil ist es, der dafür sorgt, dass so manche Passage des Buches einen direkt wie ein Schlag in den Magen trifft. Seine Schilderungen, in diesen nüchternen Stil verpackt, machen das ganze Ausmaß nationalsozialistischer Verbrechen verständlich und helfen, das Konzept der Konzentrationslager und deren ganz eigene Gruppendynamik nachvollziehen zu können.

Von mir gibt es für dieses Buch eine unbedingte Leseempfehlung.

Broschiert: 432 Seiten
Verlag: Nikol Verlag
ISBN-13: 978-3868200379

Carlo Ross: Im Vorhof der Hölle: Ein Buch gegen das Vergessen.

1942 wird der 14-jährige Jude David Rosen nach Theresienstadt gebracht.
Dieses Lager, von den Nazis als »Vorzeige-KZ« konzipiert um es der Presse und ausländischen Besuchern vorzuführen, wird von seinen Bewohnern auch »Vorhof zur Hölle« genannt.
Jeder hier weiß, dass es aus Theresienstadt nur einen Weg gibt: in die Vernichtungslager.
David merkt schnell, dass hinter der künstlichen Fassade der gleiche brutale Alltag von Terror und Angst herrscht, dem die Juden in dieser Zeit überall ausgesetzt sind.

Er hat nur ein Ziel: Er will überleben.

Quelle: DTV

Das Buch ist in der Ich-Perspektive gehalten und zeichnet sich durch eine einfache, oft sachliche und immer gut verständliche Sprache aus. Es wendet sich vor allem an jugendliche Leser und ist gewissermaßen die Fortsetzung des Buches „…aber Steine reden nicht“, das ebenfalls von David handelt und sich mit den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten im Jahr 1938 befasst. Beide Bücher sind auch unabhängig voneinander gut zu lesen.

Taschenbuch: 288 Seiten
Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag
ISBN-13: 978-3423780551
empfohlenes Alter: 12 – 14 Jahre

Hans Peter Richter: Damals war es Friedrich.

Zwei Jungen wachsen im selben Haus auf und gehen in die selbe Schulklasse. Jeder wird als einziges Kind von verständnis- und liebevollen Eltern erzogen. Selbstverständlich werden sie gute Freunde und jeder ist in der Familie des anderen daheim. Doch Friedrich Schneider ist Jude und allmählich wirft der Nationalsozialismus seine Schatten über ihn. Langsam gleitet die Geschichte aus der heilen Kinderwelt in ein unfassbares Dunkel.

Quelle: DTV

Dieses Buch ist bei vielen Lehrern seit vielen Jahren Bestandteil des Geschichtsunterrichts. Friedrichs Geschichte steht exemplarisch für die Geschichte vieler jüdischer Kinder. Doch oft wird es einfacher, die Dinge zu begreifen, wenn man sie anhand eines einzelnen, konkreten Beispiels berichtet bekommt – so wie hier am Beispiel des kleinen Friedrich.

Taschenbuch: 141 Seiten
Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag
ISBN-13: 978-3423078009
empfohlenes Alter: 12 – 14 Jahre

Margret Hamm/ Walburga Borgert/ Sabine Henning-Blome (Hgg.): : Lebensunwert – zerstörte Leben: Zwangssterilisation und „Euthanasie“

Das Vergangene ist nie tot; es ist nicht einmal vergangen.“
[William Faulkner]

1933 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Infolgedessen wurden rund 350.000 Menschen durch Zwangssterilisation ihrer Fortpflanzungsfähigkeit beraubt und 300.000 Menschen nach 1939 als „lebensunwert“ stigmatisiert.

Das Buch gibt einen thematischen Überblick und ist in zwei Blöcke unterteilt: Im ersten Teil findet man exemplarische Lebensgeschichten, während im zweiten Teil die Forschung zu Wort kommt.
Dazu gibt es viele Abbildungen und weiterführende Fußnoten.

Broschiert: 254 Seiten
Verlag: Vas-Verlag für Akademische Schriften
ISBN-13: 978-3888643910

Margret Kampmeyer/ Cilly Kugelmann/ Marie Naumann (Hgg.): Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus.

„Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus“ befasst sich mit der Entwicklung und Radikalisierung des nationalsozialistischen Rassenwahns.

Dieses Buch enthält Beiträge verschiedener Autoren, unter anderem von Hans-Walter Schmuhl, Gerrit Hohendorf, Maike Rotzoll, Thomas Beddies und Petra Fuchs (wer sich bereits einmal mit der Thematik befasst hat, dem werden diese Namen sicherlich geläufig sein). Dazu kommen zahlreiche Abbildungen und neun Lebensgeschichten.

Es gibt fünf Oberkategorien in dem Buch:
– Das „Dritte Reich“ als biopolitische Entwicklungsdiktatur
– Die Zwangssterilisierung
– Die Aktion T4
– Die Tötung „lebensunwerter“ Kinder im Nationalsozialismus
– Der dezentrale Krankenmord

Dieses Buch setzt etwas Vorwissen voraus, dürfte für an der Thematik Interessierte jedoch sehr aufschlussreich sein. Zahlreiche Fußnoten verweisen dann auf weiterführende Lektüre.

Broschiert: 135 Seiten
Verlag: Wallstein
ISBN-13: 978-3835304680